Gemischte Gefühl - gemixter Klang
Gemischte Gefühle
Abbado zeigt im Kopfsatz und auch teilweise im Finale mit hitzigen Tempi, aber auch sonst in der Gesamtanlage der Interpretation, dass Bruckner in der Ersten keinesfalls weihevolle wagnersche Sinfonik komponiert hat.
Das hatte bis dahin (1969) wohl nur Volkmar Andreae so deutlich rübergebracht (Sinf 1-9 + Te Deum bei M&A, 9 CDs, mono – Wiener Sinfoniker, gute Rundfunkproduktion, Orchesterspiel deutsch-österreichischer Standard der 50ziger Jahre).
Viel des "Beiwerks" gerät hier zu dramatischer Intensität - z.B. abgerissene Streicherbewegungen, z.B. beim dritten Thema (Buchstabe C und E, ca. ab 3 Min) oder auch bei Buchstabe F.
Und warum auch nicht so ein drängendes Tempo? Grundtempo ist immerhin Allegro, außerdem gibt es auch ausgeschriebenes Ritenuto und Accelerando.
Wer sagt denn, dass Bruckner so statische Tempi haben wollte wie es oft praktiziert wird.
Die Sinfonie ist immerhin von ihm selbst "freches Frauenzimmer" ("keckes Beserl") genannt worden - und wer will so eines schon bremsen wollen?!
Der zweite Satz (Adagio) spricht in der Artikulation und dennoch kann die Musik natürlich fließen. Die Musikrede ist in den Dimensionen der Romantik Schumanns gehalten, was wunderbar passt und diesem Satz frischen Atmen gibt. Das ist Kunst im Verborgenen am Dienst des Werks...
Die Wiener Philharmoniker spielen übrigens gut für Abbado, was leider manchmal klanglich nicht rüberkommt. Dazu später mehr…
Nach Sturm und Drang im ersten und Poesie im zweiten folgt im dritten Satz - leider Biederkeit. Nach dem zweiten Satz freut man sich angesichts der Erinnerung (bzw. Entsprechung) an den ersten Satz an ein feuriges Scherzo (immerhin mit der Tempobezeichnung "schnell"!) und es tönt eher starr und unflexibel in einem behäbigen Tempo (8:52 Min – bei Andreae, der in der dramatischen Anlage am besten vergleichbar ist, 8:13, bei Steinäcker 8:08, bei Venzago 7:59) – und das liegt nicht am „langsamer“ des Trios.
Im Finale macht Abbado dann wieder etwas „wett“, aber das Feuer des Kopfsatzes kann er nicht mehr ganz so stark und schlüssig entzünden. Aber der Finalsatz ist auch schwieriger zu gestalten. Immerhin schafft er es, dass die permanente Motivwiederholung nicht starr und entnervend wirkt wie bei manchen Aufnahmen. Dass diese aber etwas manisch Verrücktes haben, haben Andreae und jüngst auch noch vielschichtiger Steinäcker beeindruckend vermittelt.
Gemixter Klang
Die Aufnahme kommt über Boxen akzeptabel rüber, wenn auch manchmal Stimmen zu sehr im Vordergrund erscheinen und dadurch hie und da unschön (und bei Streichern auch unsauber) wirken, über Kopfhörer hört man allerdings dann doch sehr stark das Rein- und Rausnehmen von Mikrophonen, also eine permanente Veränderung der natürlichen Balance. Es gibt noch manch andere Störfaktoren (z.B. der dadurch undefinierte Raumklang), aber dieser ist doch der aufdringlichste. Da berücksichtigt sollte man drei Sterne vergeben anstelle vier - aber das wäre Abbado, den WP und auch der geschichtlicher Rezeption gegenüber ungerechtfertigt…
Der australische Transfer ist in Ordnung – aber vielleicht ist ja die japanische Überspielung gelungener und macht die aufnahmetechnischen Unstimmigkeiten plausibler?
Fazit
1969 war das sicherlich eine wichtige Einspielung, heute gibt’s doch Alternativen - auch in ähnlicher Lesart mit differenzierter Durchhörbarkeit.