Die musikalische Auferstehung eines Unsterblichen
Louis Armstrong (1900-1971), Jazztrompeter und Sänger aus New Orleans, gilt zu Recht als einer der ersten und einflussreichsten Jazzmusiker. Sein drei Jahre älterer Kollege Sidney Bechet (1897-1959) bleibt dabei zu Unrecht etwas in Satchmos Schatten, obgleich seine Beiträge zu dieser jungen Musikform sich womöglich als weitreichender erweisen als die von Armstrong. Die hervorragende Kompilation "Sidney Bechet – The Complete American Masters 1931 – 1953" hat das Zeug zur Ehrenrettung dieses hervorragenden New-Orleans-Klarinettisten und –Sopransaxophonisten der ersten Stunde. Schade nur, dass der Titel etwas missverständlich ist, beinhaltet doch die sonst in jeder Hinsicht vorbildlich und sorgfältig kompilierte und annotierte Box bereits Einspielungen mit Bechet ab 1923. Zwar gibt es bereits Einzel-CDs und Kompilationen von Bechet sonder Zahl, ärgerliche Ueberschneidungen inklusive. Die vorliegende 14-CD-Box zum sensationellen Preis von weniger als EUR 40 bringt nun erstmals chronologische Ordnung in den existierenden Wildwuchs.
Die Besetzungsangaben lesen sich wie ein "who's who" des Jazz in den ersten 30 Jahren seit seiner Entstehung. Bechet hat mit fast sämtlichen grossen Musikern der damaligen US-Jazzszene von New Orleans über Chicago bis New York gespielt – und sie alle wollten den genialen Charmeur mit dem beseelten, vibratoreichen Ton auf Klarinette oder Sopransax dabei haben. Eine unvollständige Auswahl von beteiligten Musikern, sozusagen als "amuse-oreille" muss genügen: Trompeter Louis Armstrong, Bunk Johnson, Tommy Ladnier, Muggsy Spanier, Sidney De Paris, Charlie Shavers, "Hot Lips" Page, Jonah Jones etc. Posaunisten Vic Dickensen, J.C. Higginbothan, Wilbur De Paris etc. Klarinettisten Albert Nicholas, Milton "Mezz" Mezzrow und der junge Bob Wilber, einst Bechet's Schüler. Pianisten Clarence Williams, Meade Lux Lewis, Willie "The Lion" Smith, James P. Johnson, Jelly "Roll" Morton, Earl Hines, Cliff Jackson, Art Hodes, Dick Wellstood, Ralph Sutton etc. Die Bassisten George "Pops" Foster und Wellman Braud. Schlagzeuger Zutty Singleton, "Baby" Dodds, Sid Catlett und der junge Kenny Clarke.
Versteht sich, dass die vorliegende Box gespickt ist mit einer Vielzahl von musikalischen Preziosen. Dazu gehört die "Sidney Bechet's One-Man Band" mit zwei Titeln, welche Bechet 1941 im Playback-Verfahren aufgenommen hatte. Alle 6 Instrumente spielt er selbst, als da sind Sopran- und Tenorsax, Klarinette, Klavier, Bass und Schlagzeug. Natürlich fehlen in der Box weder Gershwins "Summertime"(1939), ein absoluter Bechet-Hit, noch der "Weary Blues" (1938) mit dem umwerfenden Klarinettensolo. Und mit dem "Haitian Orchestra"(1939) hielten karibische Tanzformen wie Merengue, Rhumba u.a. Einzug in den Jazz, dazu als Kuriosität der umfunktionierte zickige "Colonel Bogey March".
Bechets Einfluss auf Musiker wie die Altsaxophonisten Johnny Hodges und Phil Woods ist unüberhörbar. Und selbst John Coltrane und Sonny Rollins, die Avantgardisten Steve Lacy und Ornette Coleman beriefen sich auf Bechet.
Und in der Konzertmusik befassten sich u.a. Stravinsky, Arthur Honegger und Darius Milhaud mit den phänomenalen und genialen Schöpfungen des Kreolen aus New Orleans.
Ergriffen, ja verzaubert war auch der grosse Dirigent Ernest Ansermet, der nach einem Bechet-Konzert 1919 in London zu Protokoll gab: "Je veux dire le nom de cet artiste de génie, car pour ma part je ne l'oublierai pas, c'est Sidney Bechet".