Nein - zumindest NOCH nicht ...
Ob nun Wildner einen Rezensenten hier "kalt lässt" oder ob ich schreibe, dass das Packende bei Rattles Einspielung zum Großteil dem engagierten Spiel des BPO geschuldet ist - es sind alles ganz Subjektive Wahrnehmungen von Interpretationen...
Interessanter und "diskussionswürdiger" finde ich die Frage des Umgangs mit dem Finale der Neunten Bruckner.
Vorher aber noch MEIN subjektiver Satz zu dieser Aufführung hier - und dabei greife ich mal nur das Kritische heraus:
Mir klingt diese Neunte etwas zu irdisch-sinnlich: ein wollüstiges Schwelgen in den möglichen schönen oder schaurigen Orchesterklängen. Quasi etwas zuviel Wagner ... Klar können die Berliner damit Punkten. Ich bevorzuge da doch mehr das "Metaphysische", manchmal Emotionslose, Kalte, Verstummende und gerade dadurch eine menschlich-unfassbare Welt Öffnende eines Guilini mit Chicago oder Klemperer mit Philharmonia Orchestra - oder das wirklich "Katholische" und Herzergreifende von Keilberth.
Was das vollendete Finale angeht, so hat - was die Interpretation (nicht die Fassung) anbetrifft – Kurt Eichhorn den Maßstab gesetzt. Und damit zum Wesentlichen dieser Besprechung – dem umstrittenen Finale:
GRUNDSÄTZLICHES ZUM FINALE
Ich freue mich sehr, dass durch die Aktivitäten verschiedener Musikwissenschaftler, Komponisten und Dirigenten - also auch Einspielungen wie dieser - ein neues Bewusstsein in Sachen Bruckner 9te (bzw. die Bedeutung dessen Finales) mittlerweile "Früchte trägt". Seit hundert und mehr Jahren werden ein paar unvollendete Werke der Musikgeschichte einfach als "fertig" bezeichnet und auch so behandelt - und manchmal werden dabei zudem die ausgesprochenen Wünsche und Absichten der Komponisten grob missachtet…
Nun ein paar Fakten:
Im Falle der letzten Bruckner-Sinfonie gibt es kein vom Komponisten fertiggestelltes Finale, leider noch nicht einmal als durchgehende Skizze. Es ist nicht ganz geklärt, wie weit Bruckner mit seinem Finale gediehen ist. Die Spekulationen reichen von einem gut ausgearbeiteten klaren Particell bzw. Partitur bis in die Coda hinein bis zur Vermutung einer im Grunde fertiggestellten Komposition. Was feststeht ist, dass viele Notenblätter von Bruckners Arbeit am Finale von Souvenirjägern quasi an dessen Totenbett geraubt wurden. Einiges davon ist über die letzten Jahrzehnte wieder aufgetaucht. Es kann also durchaus sein, dass noch mehr Material dazu auftaucht und irgendwann der Punkt erreicht ist, dass die Komposition (mit Vorbehalten) wie die Mahler 10te als schlüssige Aufführungsversion (im Sinne von Deryck Cooke) fertiggestellt werden kann. Eine vollendete Neunte aus den Händen Bruckners werden wir nie hören, bestenfalls eine mehr oder wenige ausgearbeitete Arbeitspartitur.
Der momentane Stand erlaubt schon halbwegs schlüssige Varianten bis in die Reprise des Satzes hinein, von der Krone der Werks, der alles entscheidenden Coda, gibt es außer mündlichen Anmerkungen allerdings nach wie vor keine Note.
Nebenbei bemerkt: Auch die ersten drei Sätze sind nicht "vollendet", da Bruckner nach Fertigstellung des Werks das Gesamte nochmals durchgesehen, revidiert und vielleicht Wesentliches geändert hätte!
a) Bruckners "Neunte" ist ohne Finale ein unvollendeter Torso! Wer behauptet die Neunte sei in ihrer Dreisätzigkeit vollkommen, redet sich die Sache schön ...
b) Eine seriöse vollständige Aufführungsversion kann nicht erstellt werden, besonders da für die letzten ca. 7 Minuten jegliches Notenmaterial fehlt.
Wie nun in der Praxis mit den Fakten umgehen? Die Möglichkeiten:
1. Die Neunte dreisätzig aufführen mit eindeutigen Informationen zur Rezeption und Konzeption des Werks im Programmheft bzw. CD-Textheft. So wird zumindest die Dimension der Werks angesprochen, die Illusion einer dreisätzig vollendeten Neunten findet ein Ende und dennoch ist die Frage der Qualität der Skizzen nicht berührt. Eine Variante für Dirigenten, die vom Final-Entwurf nicht wirklich überzeugt sind.
2. Eine Aufführung als Werkstattkonzert, so wie Harnoncourt es getan und es auf CD festgehalten ist. Dabei wird nur das vorhandene authentische Material Bruckners verwendet. Der Zuhörer bekommt genauen Einblick in den Stand der Forschung und kann sich von den Fragmenten faszinieren und seine Phantasie anregen lassen.
3. Eine „normale“ Aufführung mit der Exposition des Finales. Die Exposition benötigt nur wenige Retuschen, da sie vollständig in Bruckner Arbeitsprozess vorliegt. So bekommt der Hörer einen Eindruck von der Idee des Finales mit den Hauptthemen in einer quasi „abgebrochenen“ Aufführung.
4. Eine Aufführung mit Hilfe fremder Hand bis zum Reprise erweitertem Finale. Das erfordert aber ein paar frei hinzugefügte Takte und es existieren schon zwei sehr befriedigende Fassungen. Auch wenn hier stark das Reich der Spekulation betreten wird, so bekommt der Hörer doch einen großen Eindruck des Finales, je nach dem zwei Drittel bis drei Viertel des Satzes.
5. Eine Aufführung mit einer der Versionen des „vervollständigten“ Finales durch Musikwissenschaftler / Komponisten. Das letzte Viertel ist allerdings frei komponiert, im besten Falle nach den mündlichen Angaben bzw. die wenigen Noten über die Themenverarbeitung der Coda. So verlockend es ist, im Konzert oder auf CD vier abgeschlossene Sätze zu hören: Es ist genauso eine Illusion wie die einer „vollendeten“ dreisätzigen Version.
Ich persönlich präferiere die Varianten zwei bis vier. Die erste bietet keine Vision fürs Ohr und die letzte zu wenig Bruckner. Eine sechste Variante wäre Bruckner „letzter Wille, falls das Werk unvollendet bliebe“: die Aufführung der Exposition mit abschließendem Te Deum oder nur dem Te Deum als Abschluss der Sinfonie. Allerdings war Bruckner stark Pragmatiker (aber nur was das Aufführen angeht!) und es stellt sich die Frage, ob er mit diesem „Notbeschluss“ (von dem man nicht weiß, ob er überhaupt greift) eher die Aufführung der Sinfonie ermöglichen wollte als dem Werk zu einem stimmigen Abschluss zu verhelfen. Außer der offensichtlichen Widmung an den lieben Gott ist den beiden so unterschiedlichen Werken wohl nichts gemein.
ZUR INTERPRETATION DES FINALES DURCH RATTLE UND DIE FASSUNG VON „SPCM“
Wie schon in den ersten drei Sätzen gibt es hier viel pralle Sinnesfreude, mir persönlich zu wenig Spiritualität. Jaja, das ist ganz dünnes Eis … aber wie etwas über musikalische Empfindung in Worten sagen? Andererseits bringen die Berliner im Gegensatz zu den anderen Einspielungen mit Finale ordentlich Sehnen und Fleisch auf das durchaus vorhandene Knochengerüst. Die zu verbindende erste größere Lücke nach der Exposition zum Übergang zur Fuge ist m.E. noch nicht ganz glücklich gelöst – zuviel rauf und runter. Dafür ist die frei erfundene Codaschichtung eine durchaus zündende Idee – aber noch längst nicht fertig! Nochmal ein zwei geniale Anläufe (durch weitere Mitarbeiter?), dann könnte es vielleicht überzeugen, auch wenn es kein Bruckner ist. Und: ist das denn wichtig? Dazu ganz am Schluss mehr.
FAZIT:
Es ist nicht Bruckner Neunte wie sie sein könnte - - auch wenn man das Arbeitsstadium für bare Münze nimmt. Es ist auch bezüglich der Komposition des Finales in den Übergängen und der Coda hoffentlich noch nicht das letzte Wort gesprochen. Ein paar neu aufgefundene Skizzenblätter könnten da viel bewegen!
Ausblick …
Eine verwegene These: Vielleicht ist ja die zehnte Mahler (dort m.E. genial durch Cooke gelungen!) und neunte Bruckner nur und NUR dann richtig zu Ende geschrieben, wenn ein Komponist oder Musikwissenschaftler unserer Zeit Hand daran legt – in einer gewagten Modernität, die Bruckners Rahmen sprengt und dennoch seine Spiritualität trifft! Denn es stellt sich tatsächlich die Frage, was nach dem letzten Höhepunkt des dritten Satzes Bruckner in den Schichtungen der Coda noch hätte schreiben können oder geschrieben hat bzw. im Kopf hatte?
Dreht es sich denn um die Autorenschaft eines Komponisten oder um das Eigenleben und die Aussage eines visionären Stücks, um das der Komponist gerungen hat?
Bis jetzt ist die Antwort Gottes zu alldem im Falle Bruckner ein Schweigen …