Dokument des Übergangs
Am 31. März 1947 dirigierte Eduard Van Beinum seine erste Matthäus-Passion im Amsterdamer Concertgebouw. Er setzte damit jene Tradition fort, die am 08. April 1899 mit Willem Mengelberg begonnen hatte, von dessen Aufführung aus dem April jenen Jahres, in dem Hitler Polen überfiel, ein Mitschnitt erhalten ist, der HIER besprochen wird. Von den Aufführungen, die Van Beinum zwischen 1947 und 1958 geleitet hat, gab es nur einen Torso. Erst kürzlich wurde ein kompletter Mitschnitt aus dem Jahre 1958 entdeckt, der zeigt, warum die Rezensenten schon 11 Jahre zuvor von Van Beinums Aufführungen begeistert waren.
Der Kritiker Gaffel drückt seinen Eindruck in der niederländischen Zeitung „Trouw“ folgendermaßen 1947 aus: „Bach tauchte endlich – gereinigt wie Rembrandts ‚Nachtwache’ – für jene die ihn noch nicht in Naarden getroffen hatten, in Amsterdam auf.“ In Naarden gab es bereits seit 1937 die Tradition, Bachs Passion ungekürzt und deutlich verinnerlichter, authentischer und aufzuführen als in Amsterdam.
Leo Hanekroot von der heute nicht mehr existierenden „De Tijd“ holt etwas weiter aus: „Nüchternheit, Transparenz, Intimität und sinnvolle Zurückhaltung bei gleichzeitiger Berücksichtigung des Ausdruckes: dies sind die Elemente, die Van Beinums Ansatz auszeichnen. Er hat jener individualistischen Haltung abgeschworen, die die Solisten in den Vordergrund stellt, und stieß das Tor zu den Tiefen des Werkes und das Fenster auf, das das Werk zur Ewigkeit hin eröffnet. Darüber hinaus respektiert er die von Bach geforderte Orchesterbesetzung und behält die Trennung des Doppelchors durchgehend bei.“
Tatsächlich wirkte Beinums Bach in seiner Abkehr von Mengelbergs Ausführungsprinzipien auf die Zeitgenossen ausgesprochen modern. Für heutige Ohren, die bisweilen (nur) an einen minimale Besetzung a là McCreesh oder Kuijken kennen, ist das wahrscheinlich kaum nachvollziehbar - es sei denn, man hört direkt nacheinander Mengelbergs Einspielung und dann diese. Aus gegenwärtiger Perspektive klingt diese Aufnahme der Passion, die im Übrigen im gleichen Jahre entstand wie Karl Richters herausragende erste Einspielung des Werkes, groß, erhaben, „romantisch“ - aber auch ungekünstelt, im besten Sinne schlicht und eben ohne die Extravaganzen, die Mengelberg sich geleistet hatte.
Die Solisten, die Van Beinum bei dieser Aufführung zur Verfügung standen, gehörten - neben den beiden Schweizern Haefliger und Rehfuss (der gebürtiger Frankfurter war) – zum Besten, was die Niederlande in jenen Jahren zu bieten hatten. Doch zunächst zu Haefliger und Rehfuss.
Ernst Haefliger gestaltet die Rolle des Evangelisten würdig, in erzählendem Gestus, im Ganzen eher dezent als hochemotional gestaltend. Es ist ein Evangelist, der vom Affekt nicht allzu stark beeinflusst wird, sondern das Stimme gewordene Evangelium, meist über den Dingen stehend. Umso eindrucksvoller ist es, wenn er Akzente setzt – beispielsweise bei Jesu Gefangennahme, vor Pilatus („…aber Jesus schwieg stille.“), bei der Darstellung des Weinen Petri oder der Kreuzigungsszene. Stimmlich ist Haefliger vollkommen auf der Höhe.
Heinz Rehfuss wurde als Sänger zu seiner Zeit stark mit Rollen wie Don Giovanni, Golaud oder – ganz besonders – Boris Godunow assoziiert. So ist es kein Wunder, dass wir hier einem großen Jesus begegnen. Rehfuss’ Stimme ist groß, aber nicht polternd (wie Engen bei Richter), nicht mehr ganz jung und große Würde ausstrahlend. Er passt hervorragend zu Haefligers Evangelisten, weil er keinen Mensch gewordenen Gottessohn zeichnet, sondern einen auch in den schwersten Momenten seines Leidens kaum anfechtbaren Sohn Gottes. Die über ihn kommenden Zweifel im Garten Gethsemane nehme ich ihm nicht so recht ab. Hier ist einer, der um seine Herkunft und um seine Auferstehung weiß.
Erna Spoorenbergs Darstellung der Sopranpartie spricht mich unmittelbar an. Ihr Vortrag ist ausgesprochen nuancenreich, nie wirkt sie aufgesetzt (man höre die ehrliche Empörung im B-Teil der Arie „Blute nur“), ist immer intensiv (wie wunderbar gelingt ihr beispielsweise das von Van Beinum sehr langsam genommene „Wiewohl mein Herz in Tränen schwimmt“). Die zentrale Arie „Aus Liebe will mein Heiland sterben“ geht mir geradezu ins Mark.
Annie Hermes, die die Matthäus-Passion schon bei Mengelberg, aber auch in Naarden schon häufig gesungen hatte, war eine der gefragtesten Oratoriensängerinnen ihrer Zeit. Ihre voller, warmer, echter Alt hat einen mütterlichen jedoch nie matronenhaften Ton, den sie (auch in hoher Lage) ganz ohne Druck und Anstrengung führt. Wunderbar gelingt ihr das „Ach wo ist mein Jesus hin“, ihre Wiedergabe des „Erbarme dich“ und des „Ach, Golgatha!“ ist im Affekt leicht zurückgenommen, sie drückt nicht auf die Tränendrüse, sondern singt ganz natürlich und darin ausgesprochen berührend.
Die Rezitative und Arien für Tenor sind Simon van der Geest anvertraut, der in den Niederlanden auch ein gefragter Evangelist war (Naarden). Seine helle, lyrisch und ganz klare Tenorstimme, die dennoch über einen starken Kern verfügt, finde ich ausdrucksstark und für diese Partie bestens geeignet. Das zeigt sich auch in seiner technisch und gestalterisch vollkommen sicheren Wiedergabe der nicht unproblematischen Geduld-Arie.
Der zu seiner Zeit renommierte niederländische Chorleiter und Bassbariton David Hollestelle übernimmt die Gestaltung der Bassarien – und Accompagnati. Auch er hat eine große Stimme mit wotanesker Klangfarbe, die er jedoch durchweg leicht zu führen versteht und die auch in der hohen Tessitur immer geschmeidig klingt. Lediglich für die etwas virtuosere Arie „Gebt mir meinen Jesum wieder“ ist die Stimme einen Tuck zu schwer.
Hans Willbrink gestaltet die kleineren Bass-Partien (Petrus, Judas, Pilatus) plastisch, mit gutem Gespür für die „Szene“.
Der Amsterdamer Tonkunstkoor ist seit Mengelberg im Concertgebouw für die Gestaltung der Chöre der Matthäus-Passion zuständig. Bei Van Beinum sind es sicher keine 450 Sängerinnen und Sänger mehr, es ist aber immer noch ein großer Chor. Doch letztendlich wird nicht versucht, durch die schiere Klangmasse zu überwältigen. Sicher, der Chor kann in den Turbae sehr schön zupacken. Es ist schon eindrucksvoll, wenn das „Ja nicht auf das Fest“ im Piano beginnt und sich dann in Tempo und Lautstärke so machtvoll steigert wie hier. Auch das Keifen des „Weissage, weissage“, die „Kreuzige-Chöre“ ist in dieser Besetzung überwältigend, aber das ist nicht alles. Der Chor hat auch ein herrliches Piano, kann ganz zurückgehen, ist recht flexibel und meist sehr präzise. Es gehört zu den Realitäten von Live-Aufführungen, dass es Momente gibt, in denen sich ein Wackler einschleicht und hier ist es bspw. In „Ach! nun ist mein Jesus hin“ / „Wo ist denn dein Freund hingegangen“ soweit. Aber wer wollte dies bekritteln?
Mir gefällt Van Beinums Ansatz gut, er deutet in seinem insgesamt zurückgenommenen Gestus schon auf die verinnerlichte niederländischen Interpretationslinie hin, die sich in den folgenden Jahrzehnten entwickelte und die mich persönlich wohl am meisten anspricht. Die von den Zeitgenossen wahrgenommene Modernität steckt mE in der Haltung dem Werk gegenüber, nicht so sehr in der musikalischen Ausführung. Da gibt es schon eine Verwurzelung in der romantisierenden Tradition, beispielsweise in den sehr moderaten (aber insgesamt dennoch immer fließenden) Tempi, in der mehr oder minder identischen Herangehensweise an die unterschiedlichen Choräle, die Van Beinum durchweg als Momente der Ruhe, als ein Atemholen inszeniert. Schließlich sind die wenigen Takte des "Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen" kurz große Oper.
Meines Erachtens ein wichtiges Dokument.