Poetischer, zeitloser Klassiker, voller atmosphärischer Naturbeschreibungen. Highlight!
INHALT:
Marie lebt glücklich und zufrieden mit ihrer Familie auf einem bäuerlichen Hof in der Haute-Provence.
Lavendelfelder, Olivenhaine, Mandelbäume, Wälder mit Pinien, Zypressen und die vielen Berge zieren das Landschaftsbild des beschaulichen Dorfes.
Bei ihnen oben auf dem Plateau herrscht jedoch ein raues Klima. Viele Häuser sind verlassen und zerstört. Die Erde wurde kaputtgemacht, es regnet immer weniger.
Die Winde peitschen über die unendliche Weite. Mit dabei der Mistral - ein gefürchteter kalter Fallwind aus nordwestlicher Richtung, der den Menschen das Leben schwer macht.
„Es gab kleine Pausen, zwischen denen der Mistral wie ein Stier brüllte (…). Er ist der körperlose Feind, den man nicht sieht, der aber zischt wie eine Schlange, die schon recht große junge Mandeln erfrieren lässt, die Kinder reizt, die Menschen in die Häuser sperrt.“
„Ein Wind, der kirre macht. Bleischwer, betäubt.“
Man erzählt sich, dass der Wind der Grund dafür sei, dass hier mehr Frauen „den Verstand verlieren“ würden …
Marie ist die rechte Hand der Mutter. Keine Arbeit ist ihr zu schade und so packt sie fleißig mit an, egal ob im Haushalt, bei den Geschwistern, im Stall der Tiere, bei der Ernte, beim Heu oder bei der Wäsche.
Die älteste Tochter ist flink und geschickt, wunderschön und man sagt sich, sie sei den Eltern die Liebste.
Eines Tages begegnet Marie Olivier. Lebhaft, braungebrannt und selbstsicher erscheint ihr der junge Mann. Sie verliebt sich in ihn.
„Mit zugeschnürter Kehle verlangsamt sie ihren Schritt und wünschte, sie könnte mit den Händen ihr hüpfendes Herz festhalten.“
Es kommt zum Kuss.
Sie erhofft sich mehr, doch er scheint anderes im Sinn zu haben.
Und Marie droht an ihrem Liebeskummer zu zerbrechen …
„Selbst wenn es schön ist, der Himmel klar, ist sie nicht froh.“
„Sie fühlte sich, genau wie diese blendend weißen Flocken, vom Sturm gebeutelt, zerfetzt. (…) Der Orkan riss sie auf seinen mächtigen, tragischen Schwingen mit sich fort. Tränen erstickten sie.“
MEINUNG:
Dieser, von der Übersetzerin wiederentdeckte Klassiker, ist ursprünglich bereits 1930 in Frankreich erschienen. Amelie Thoma hat das Buch vor ein paar Jahren im Urlaub in der Haute-Provence für sich entdeckt und nun ins Deutsche übersetzt.
Denn trotz des Alters der Geschichte, bleibt die Lektüre zeitlos, bzw. wirkt teilweise sogar erschreckend aktuell (Stichwort Klimakrise)!
Zufälligerweise habe ich das Buch an einem stürmischen Tag und zum Teil draußen gelesen, was unglaublich gut zum Inhalt gepasst hat. Denn der Wind spielt hier eine große Rolle. Er gleicht einem roten Faden, der Lesende an die Hand nimmt und durch das Buch führt.
Gleichzeitig unterstreicht der Wind in all seinen Facetten die Gefühlswelt von Protagonistin Marie, wodurch diese noch besser zum Ausdruck kommt: Mal bläst er sacht oder verstummt gar. Dann droht er plötzlich „mit schrecklicher Stimme“. Er „tönt wie eine Glocke“, japst röchelnd, „tobt und rüttelt“, „wutentbrannt“ und „schneidend“.
„Der Baum stellt sich dem Wind entgegen wie ein Kämpfer. Wie Arme bremsen die dicken Äste seine Raserei.
Das Wüten verwandelt sich in Rohr- und Flötenklänge.
Der Wind teilt sich in den Bäumen. Er verliert sich darin, zerrinnt zu Musik, wird zur Brise.“
Nicht nur der Wind wird so atmosphärisch beschrieben. Der Autorin ist das sogenannte „Nature Writing“ meines Erachtens ziemlich gut gelungen. Das schmale Buch beinhaltet nicht allzu viel Handlung, sondern lebt von seinen zahlreichen bildreichen Naturbeschreibungen, die den größten Teil der Geschichte einnehmen. Ich persönlich mag das gerne. Es fühlt sich beim Lesen an, als wäre man selbst vor Ort, mit all seinen Sinnen. Man kann den Lavendel riechen und die Oliven schmecken, man hört den Wind pfeifen und spürt ihn auf der Haut.
Dazu wirkt der Schreibstil sehr poetisch. Die Worte sind mit Bedacht gewählt und enthalten auch viele Begriffe, die heute nur noch selten verwendet werden. Einige waren mir neu, aber die meisten lassen sich im Text erschließen.
Trotzdem habe ich anfangs etwas gebraucht, um mich an die besondere Sprache zu gewöhnen. Danach war ich allerdings äußerst angetan von ihr. Ja, manche Stellen (vor allem in Bezug auf die Liebesgeschichte) waren mir schon etwas zu kitschig, aber meine Güte, das hat poetische Sprache manchmal so an sich.
Manche Zeilen muss man auf sich wirken lassen und vielleicht auch mehrmals lesen, damit sie sich entfalten können. Daher habe ich immer wieder Pausen eingelegt und stückchenweise gelesen. So hat es für mich am besten gepasst.
Da ich bisher noch nicht allzu viele Klassiker freiwillig gelesen habe, war es für mich ideal, dass das Buch nur knapp 130 Seiten umfasst. Daher kann ich es besonders auch Klassiker-Einsteigern ans Herz legen!
Was für mich häufig ein Highlight ausmacht, ist, wenn ich mir ein Buch direkt nach dem Lesen am liebsten noch einmal zu Gemüte führen würde, es noch lange in mir nachhallt und es mich in irgendeiner Art und Weise bewegen konnte.
All dies trifft bei mir bei „Mistral“ definitiv zu!
FAZIT: Ein zeitloser, wiederentdeckter und neu aus dem Französischen übersetzter Klassiker, der sich aufgrund seiner wenigen Seiten auch für Einsteiger in dem Genre wunderbar eignet. Wer atmosphärische Naturbeschreibungen und eine poetische Sprache zu schätzen weiß, sollte zu diesem Buch greifen! 4,5/5 Sterne und ein Highlight!
!!ACHTUNG SPOILER!!
(CN: Depression, Suizid(gedanken))