Identität und Verwirrung
Der Roman von Winterson macht es mir nicht leicht: Er hat große Qualitäten - und kann doch nicht völlig überzeugen.
Worum geht's? Der Titel verrät es, Winterson hat den Klassiker Frankenstein adaptiert. Das Buch spielt auf mehreren Ebenen. Die erste ist in der Vergangenheit angesiedelt und erzählt die Geschichte von Mary Shelley und wie sie ihren Roman über den künstlichen Menschen schrieb. Die zweite spielt heute in Großbritannien und den USA. Protagonist/In ist Ry Shelley, ein Arzt, der ein Trans-Mensch ist, von Geburt eine Frau, aber sich ambivalent sowohl als Frau als auch als Mann sieht und der zunächst wie ein Mann aussieht und aussehen will. "Er" trifft Victor Stein, einen Gelehrten, der den Tod dadurch überwinden will, dass er das menschliche Bewusstsein auf einem Computer hochlädt. Die beiden verlieben sich, werden ein Paar, und... Ja, und? Das ist das Problem, eine wirklich geschlossene Handlung hat das Buch nicht. Ein Experiment am Ende mit ungewissem Ausgang, sodass die Leser entscheiden müssen, was sie für wahr halten. Aber dazwischen viel Dialog, der sich aller verwandten Themen annimmt: KI, Bots, Sexbots, Einfrieren von Toten, Sexualität und Identität, die Zumutung, sterblich zu sein. Das wirkt teilweise zu belehrend, als Selbstzweck, auch sind die Themen zu umfangreich und vielschichtig, als dass sie mehr als nur angeschnitten werden können. Das tut dem Buch und seiner Konstruktion nicht gut: Es gibt keine zwingende Handlung, keine echte Geschichte, der man folgt, vieles wirkt um des Themas willen arrangiert.
Auf der anderen Seite sind Motive und Geschehnisse geistreich miteinander verwoben. Das Spiel mit der Frage nach der Identität von Personen taucht in verschiedenen Variationen immer wieder auf und fasziniert, gerade weil sie nicht diskutiert, sondern erzählt wird. Ein Beispiel (Spoileralarm): Ry bestätigt zunächst alle Leseerwartungen an eine männliche Figur - und handelt dann Victor gegenüber wie eine Frau. Die kognitive Dissonanz in meinem Leseprozess, die das erzeugt hat, war interessant und hat mir viel eben darüber klar gemacht, wie stark diese Rollenbilder doch uns oder zumindest mich beeinflussen.
Fazit: Eine eher schwache Handlung, starke einzelne Szenen und ein sehr geistreiches Spiel mit den Fragen nach Identität und Fiktionalität. Nicht das beste Buch, das ich dieses Jahr gelesen habe, bereut habe ich die Lektüre aber nicht. Das nächste Buch von Winterson liegt bereit, wieder eine Adaption, diesmal von Shakespeares Wintermärchen. Nach diesem Roman verspreche ich mir davon eine intelligente Unterhaltung, mindestens.