Van Der Graaf Generator ist immer noch die intelligenteste, spannendste und energiereichste Art-Rock-Band der Welt. Ende der Durchsage.
Heimspiel für die englischen Art-Rock-Helden, die leider vom Quartett zum Trio geschrumpft sind, da der grandiose, stilprägende Saxofonist/Flötist David Jackson das Ensemble 2006 verlassen hat. Am 1. März 2022 feierte die Formation das Ende ihrer Europa-Tournee in Bath (Südengland), wo ihr Chefdenker Peter Hammill zu Hause ist. Hammill ist jetzt 76 Jahre alt, schon seit fast 60 Jahren öffentlich musikalisch aktiv und hat nichts von seiner Kreativität eingebüßt. Klar ist seine Stimme nicht mehr so dynamisch wie mit 20, aber er gibt sich keine Blöße und setzt seinen Gesang so ein, dass er die Töne sicher modulieren kann. Und das hört sich immer noch außergewöhnlich und elektrisierend an.
Obwohl der Meister schon so lange im Geschäft ist, gibt es nicht viele Van Der Graaf Generator-Konzerte in guter Tonqualität. Was bei einigen Wiederveröffentlichungen der klassischen Alben als Bonus-Live-Aufnahmen präsentiert wurde, war klanglich eine Frechheit. Aber "The Bath Forum Concert" klingt transparent, klar und volltönend.
Hammill & Band hatten ihre besten Jahre in den 1970ern, aber dieser Mitschnitt kann sich auch hören lassen. Weil die aktuellen Versionen von den Studio-Aufnahmen abweichen, weil die Band perfekt interagiert und weil es die Musiker handwerklich immer noch drauf haben. Das ist erstaunlich, denn schließlich handelt es sich um komplexe Musik, die schwer zu spielen ist.
Der Auftritt beinhaltet einen Mix aus Band-Standards und Liedern, die nach der Reunion im Jahr 2005 entstanden sind. Spätestens, wenn Hammills quengelnde, energische Punk-Gitarre mit den schäumenden Orgeltönen von Hugh Banton und den kreativen Schlagzeug-Sounds von Guy Evans zu einer Tour de Force ansetzt, ist es wieder da, das Kribbeln, was jedem Fan Gänsehaut beschert. So zum Beispiel geschehen beim energisch pulsierenden "La Rossa", dem ersten Track auf der zweiten CD. In diesem Fall vermisst man nicht einmal den Ur-Van Der Graafen David Jackson am Saxofon (ansonsten schon eher), für den dieser Titel eine Paradenummer war.
Aber los geht das Konzert mit "Interference Patterns" vom 2008er-Album "Trisector". Die Band versucht, den nervösen Minimal-Art-Rock Nerven anspannend auf die Spitze zu treiben. Das Instrumental-Gefüge läuft aber noch nicht vollkommen homogen und rund ab. Ein etwas wackliger Beginn, der zur Findung genutzt wird. Dennoch: Ein Titel zum Luft anhalten und mitfiebern.
"Every Bloody Emperor" musste unbedingt gespielt werden, da ging laut Hammill kein Weg vorbei. Denn am 24. Februar 2022 hatte Russland die Ukraine überfallen. Und Hammill trifft mit seinem allgemeingültigen, psychologisch präzise analysierenden und politisch anklagenden Text den Nagel auf den Kopf: "Das ist es, was uns alle trägt: der Glaube an die menschliche Natur, an Gerechtigkeit und Gleichheit ... alles, was wir haben, ist der Glaube, weiterzumachen... Ja, und jeder blutige Herrscher behauptet, dass Freiheit seine Sache sei". Der Song steigert sich langsam von einer betroffen wirkenden zu einer wütenden Stimmung, wobei sich Hammills Stimme erregt in das Thema der menschenverachtenden "Volksvertreter" hineingräbt und Bantons Orgel-Arsenal sowie Evans Percussion-Tumult für Aufruhr sorgen. Aber es gibt auch Augenblicke der Einkehr, des sich Zurücknehmens und der Besinnung. Die Musiker loten die passende Situation aus, reagieren mit Eifer und mit Trauer und lassen die Zuhörer mit einem offenen Ausgang auf schwierigen Fragen des Lebenszurück.
"A Louse Is Not A Home" ist ein Stück, das Hammill ursprünglich für Van Der Graaf Generator geschrieben hatte, aber während einer Band-Pause mit seinen Kollegen dann für sein drittes Solo-Album "The Silent Corner And The Empty Stage" (1974) aufgenommen hat. Das dramatische, sich wellenartig aufbäumende und zusammenfallende Stück zieht seine Faszination aus ungewöhnlichen Dynamiksprüngen, einem engagierten Gesang und einer sich langsam aber sicher mächtig auftürmenden, bis ins Mark gehende, leidenschaftlich ausgedrückten Empathie.
"Masks" ist im Original auf dem von Reggae-durchtränkten, oft unterbewertetem Album "World Record" aus 1976 und erweist sich zuweilen als groovend-kratzbürstige oder stellenweise lyrische Art-Punk-Nummer.
Seit Jahren ist "Childlike Faith In Childhoods End" eine Konzert-Paradenummer, was besonders an dem ausladenden Spannungsbogen des Stücks liegt. Peters pathetisch aufgeladener Gesang wird von Bantons donnernden Orgel und Evans swingendem Schlagzeug eingefangen und dynamisch verschlungen begleitet. Als Kontrast dazu setzt der VDGG-Chef seine eckig-zickig-giftige Gitarre ein, die er nebenbei lyrisch singen lässt.
"Go" setzt - relativ untypisch - durchgängig ätherisch-meditative Klangwellen frei und bietet deshalb eine Ablenkung vom ansonsten überwiegend Multi-emotionalen Sound, der die Sinne heftig herausfordert.
Durch das Zuspielen von Umweltgeräuschen, wie unterschiedliche Sirenen, fahrende Autos und aufgeregte Stimmen, vermittelt "Alfa Berlina" zunächst den Eindruck eines Hörspiels. Dann setzt eine sakral-bedrohliche Stimmung ein, die kurz darauf durch einen raumfüllend-federnden Art-Rock-Sound ab- und aufgelöst wird. Die gefahrvoll anmutende Stimmung kehrt später noch einmal zurück, kann sich aber nicht langfristig durchsetzen und verliert erneut zugunsten einer mächtig zuversichtlich auftrumpfenden Klanglandschaft.
"Over The Hill" vom Album "Trisector" aus 2008 ist eine epische, verschachtelte Nummer, die das Zeug hat, ein Klassiker im Repertoire von VDDG zu werden. So wie ""Childlike Faith In Childhoods End". Es liegt eine ähnliche Dramatik, Verschrobenheit und mystisch-hymnische Kraft in der Luft, die das Stück ehrfürchtig und mächtig zugleich erscheinen lässt.
Peter Hammill empfindet die Umgebung eines Hotelzimmers während einer Tournee als Ort der Geborgenheit. Um diese Wahrnehmung geht es im Wesentlichen bei "Room 1210" (im Original von "Do Not Disturb" aus 2016). Das Trio fühlt sich hörbar wohl dabei, den Track langsam aufzubauen, mit Ecken und Kanten zu versehen und in einen minimalistisch aufgebauten, zentralen Mittelteil zu überführen. Die hohe Kunst der beunruhigenden Stimulation und zugeneigten Harmonisierung wird hier vorbildlich umgesetzt!
Und noch ein unverwüstlicher Klassiker: "Man Erg" von "Pawn Hearts" aus 1971 gilt vielen Fans als Musterbeispiel und Markenzeichen für den originell-abwechslungsreichen Sound von Van Der Graaf Generator. Die Gruppe hat wieder einmal die Aufgabe, das berauschende Saxofon-Getöse von David Jackson adäquat zu ersetzen. Diese Aufgabe übernimmt Hugh Banton mit seinem Keyboard-Arsenal und er hat sich eine ähnlich wild-chaotische Instrumentierung wie auf dem Studioalbum ausgedacht, die den gewollt kakofonischen Ausbrüchen der Vorlage sehr nahekommt. So macht man aus der Not eine Tugend!
Der Abschlusstrack "House With No Door" ist ein ganz besonderer Song: im Kern ist das nämlich eine Pop-Ballade, die auch gerne mal von den Musikern zur pompös-aufbrausenden Nummer aufgepustet wird. Das hält sich hier in Grenzen, sodass der Song seine melodische und dynamische Stärke voll ausspielen kann. Herrlich!
"The Bath Forum Concert" ist ein gutes Live-Album geworden. In Anbetracht des Alters der drei Akteure sogar ein Ausgezeichnetes. Klar gibt es ein paar Spielfehler und Hammill hat nicht mehr den Stimmumfang eines Zwanzigjährigen, aber zu keinem Zeitpunkt wirken die Musiker überfordert oder altersmild. "The Bath Forum Concert" ist zwar nicht so brachial wie "Vital" (von 1978) und nicht so ausgefeilt wie "Live At Rockpalast Leverkusen 2005", wurde aber trotzdem beherzt, engagiert und temperamentvoll umgesetzt. Das aktuelle Werk offenbart allerdings auch, dass David Jackson schmerzlich vermisst wird.
Das Trio zeichnet aus, dass es die Verbindungslinien zwischen den bewährten Songs der Siebzigerjahre und den Liedern nach der Reunion aus 2005 perfekt miteinander verbindet, sodass das Programm wie aus einem Guss klingt - alte und (relativ) neue Kompositionen sind quasi hinsichtlich ihrer Qualität und Intensität nicht voneinander zu unterscheiden. Schließlich ist die Kreativität und Leidenschaft der Musiker ja auch ungebrochen, was dieses Konzert bedeutend werden lässt. Es zeigt nämlich, dass Künstler in Würde altern können, ohne nur vom Geist der Vergangenheit leben zu müssen - ein Ansatz, den nicht viele Musiker erfüllen können. Es mag der Impuls vorliegen, die Gruppe nach dem Ausstieg von David Jackson als weniger interessant anzusehen - "The Bath Forum Concert" ist in diesem Punkt jedoch ein versöhnliches Beispiel für die ungebrochene Begeisterungsfähigkeit von Hammill, Banton und Evans.
Am 11. Mai 2022 gaben Van Der Graaf Generator ihr vorerst letztes Konzert in Reutlingen. Die Tournee musste aufgrund einer Erkrankung von Peter Hammill danach abgebrochen werden. Man kann nur hoffen, dass die musikalische Reise weitergeht, denn die Geschichte von Van Der Graaf Generator ist noch lange nicht zu Ende erzählt...