Onkel Tom erzählt uns was...
Tom Jones - Surrounded By Time
CD (Laufzeit: 62 Minuten)
Der Mann ist ein Phänomen. 1940 im britischen Wales geboren, schlägt er sich zunächst als Staubsaugervertreter durch (Sie kennen das: Auspacken, Einschalten, Geht nicht), bevor er 1965 mit seiner erst zweiten Single It’s Not Unusual die Spitze der britischen Charts erreicht. Nach einigen Höhen und Tiefen feiert Tom Jones 1988 mit seiner Version des Prince-Klassikers Kiss ein grandioses Comeback und wieder zwölf Jahre später reißt er mit Sex Bomb bereits die nachkommende Generation zu Begeisterungsstürmen hin.
Einen Großteil seiner Bühnenpräsenz macht zweifellos seine Stimme aus. Schon das Teenie-Magazin teenbeat feiert im Mai 1966 „de geweldige zanger uit Pontypritt“ (richtig, das ist sein Geburtsort in der niederländischen Schreibweise), in seiner Fernseh-Show This Is Tom Jones singt er 1969-71 seine Gäste reihenweise an die Wand, und nicht zuletzt versucht selbst der kürzlich von uns gegangene Prince Philip von England das Geheimnis von Jones‘ Stimme am Rande der 1969er Royal Variety Performance zu ergründen: „Womit gurgeln Sie? Mit Kieselsteinen?“
Nun also hat Tom Jones das stolze Alter von 80 Jahren erreicht, legt mit Surrounded By Time ein neues Album vor und marschiert damit mal eben an die Spitze der britischen Charts. Hut ab. Aber trotzdem, nicht zuletzt an den hier abgegebenen Bewertungen, die munter zwischen einem und fünf Sternen pendeln, sehen Sie, das keineswegs Einigkeit in der Beurteilung des Albums herrscht.
Gleich vorweg: ich habe lange überlegt, wie ich Surrounded By Time einschätzen soll. Zunächst lebt dieses Album ganz eindeutig von Toms immer noch herausragender Stimme. Wir haben im Bekanntenkreis diskutiert: hat er die Platte wirklich frisch eingesungen oder stammen die Aufnahmen vielleicht aus den 80er Jahren? Kaum zu glauben, dass jemand in diesem stolzen Alter noch so satt und kraftvoll singen kann!
Auch die Auswahl der Songs, fast durchweg Coverversionen, erscheint klug bedacht. Wir finden hier keine der üblichen Standards, an denen man sich auf den Alterswerken bestimmter Zeitgenossen bereits satt gehört hat.
Da einige der 12 Tracks mit sechseinhalb (Talking Reality Television Blues), sieben (This Is The Sea) oder gar neun Minuten (Lazarus Man) das übliche Format locker übertreffen und in den 30 Sekunden-Hörproben von JPC zum Teil nicht über das Intro hinauskommen, folgt nun ein kurzer Abriss:
Schon der Opener I Won't Crumble With You If You Fall, im Ursprung ein Gospel von Bernice Johnson Reagon, gibt schon mal die Marschrichtung des Albums vor: nur von sparsam eingesetzten Keyboards untermalt, wird der Titel ganz allein von Toms Stimme getragen. Ruhig, melancholisch, düster.
The Windmills Of Your Mind (Michel Legrand) stammt aus dem 1968er Agenten-Thriller The Thomas Crown Affair. Noel Harrison sang den Titel im Film, Dusty Springfield brachte den Song ein Jahr später in die TOP 40. Bei der neuen Version von Tom Jones kann ich mir nicht helfen, aber die Begleitmusik seiner Fassung erinnert mich stark an den Titel Road von Paul McCartneys Album NEW aus dem Jahr 2013. Immerhin ist eins schon jetzt klar: das hier ist keine Platte zum nebenbei-Hören.
Popstar aus der Feder Cat Stevens‘ klingt zumindest vom Titel her nach einem Hit. Und tatsächlich: mit einem recht ausgefallenen Arrangement, das mich irgendwo an den Minimal-Elektropop mancher NDW-Mucke aus den 80ern erinnert, macht das Stück richtig Laune.
Auch No Hole In My Head (Malvina Reynolds) gefällt mir mit den interessanten Sitar-Klängen auf Anhieb. Der Rhythmus? Sorry, liebe Stones-Fans, aber ich glaube fast, hier stand Satisfaction Pate.
Mit Talking Reality Television Blues folgt ein ziemlicher Stilwechsel. Tom Jones gibt nach seiner Aufforderung „come gather around and I’ll sing you a song” den Erzähl-Onkel. Es geht ums... Fernsehen. Zunächst heißt es noch „Video killed the Radio-Star“, doch schon bald schlägt die Wirklichkeit gnadenlos zu. Gut, dass Todd Sniders Text, wie auch die der anderen Songs, im Booklet zum Mitlesen (Mitsingen ist hier nicht angesagt) abgedruckt ist. Musikalisch ist hier ebenfalls einiges los, denn aus dem locker dahinplätschernden Blues wird im Laufe des Songs ein echter Rocker.
Auch das Arrangement von Michael Kiwanukas I Won't Lie zieht uns unwiderstehlich in seinen Bann. Ballade: check. Akustik-Gitarre: check. Aber diese Keyboard-Untermalung... unheimlich.
This Is The Sea von den Waterboys stampft als siebenminüter Steam-Roller-Blues daher, der ruhig und unbeirrt die Weltmeere durchpflügt.
One More Cup Of Coffee ist schon in Bob Dylans Original-Fassung kein Quell der Fröhlichkeit, aber Tom Jones zieht uns noch ein gutes Stück weiter runter.
Samson And Delilah legt vom Tempo her wieder zu. Ein Song, dessen Geschichte geradezu biblischen Ursprungs ist, aber für dieses Album von Tom Jones und seinem Produzententeam nochmals neu geschrieben wurde. Erneut hat uns Jones eine Menge zu erzählen, jedoch gefällt mir sein aufgeregt dahinhechelnder Rap-Stil bei diesem Song ganz und gar nicht. Soll heißen: so langsam strengt mich das Zuhören an. Vielleicht auch deshalb, weil man sich auf die Texte ungemein konzentrieren muss.
Bei Ol‘ Mother Earth schraubt Tom Jones das Tempo wieder herunter. Schon Tony Joe White erkannte 1973, dass die Ressourcen unserer Mutter Erde nicht endlos sind. Jones ruft uns das noch einmal eindringlich in Erinnerung. Verständlich, dass auch das kein fröhlicher Song ist.
I'm Growing Old (Bobby Cole) zieht mich nun vollends runter. Wenn man in ein Alter kommt, in dem man jeden Morgen seine Knochen vor dem Aufstehen durchnummerieren muss, die Augen langsam schlechter werden und die Füße nur noch über den Boden schlurfen, muss man sich das nicht noch musikalisch zu Feierabend antun. Sorry, Tom, auch wenn dir Bobby Coles Song vielleicht besonders am Herzen liegt, meine Sache ist das nicht. Trotz des kleinen Hoffnungsschimmers, dass mit zunehmendem Alter auch der Grad der Weisheit steigt.
Zum Finale kredenzt uns Tom Jones noch Terry Calliers Lazarus Man, erneut eine Story mit biblischem Hintergrund. Von den Toten auferstanden, ist Lazarus offenbar dazu verdammt, ohne Ende umher zu wandeln. Dabei wünscht er sich nichts sehnlicher als eine Mütze Schlaf.
Auch Jones scheint kein Ende zu finden. Neun Minuten! Und sieben Sekunden! Länger geht’s nicht. Immerhin ist auch dieser Song wie alle anderen hervorragend arrangiert, so dass uns das Ende reichlich abrupt vorkommt.
Damit ist diese Stunde vorbei, und wie gesagt: wie soll ich das beurteilen? Ein gutes Album? Ein tolles? OK, auch wenn das Ganze gegen Ende hin immer düsterer wird (und wie schon erwähnt nicht als lockere Unterhaltungsmusik taugt), ist mir das Teil satte fünf Sterne wert.
Aber Vorsicht: Songs der Sparte Delilah oder Help Yourself gibt es hier nicht, von einem Küsschen oder gar Sex-Bomben ganz zu schweigen. Wer sich Tom Jones’ Surrounded By Time zulegt, muss sich auf ein besonderes Album gefasst machen, für das man einfach bereit sein muss.