Viel zu viel und doch nicht genug
John Lennon / Plastic Ono Band – The Ultimate Mixes
Limited Edition Box-Set, 6 CDs (Laufzeit: 379 Minuten), 2 Audio Blu-Ray-Discs (Laufzeit: 519 Minuten), 132-seitiges Buch
Zum 50. Jubiläum des Albums John Lennon / Plastic Ono Band öffnet Yoko Ono die Archive und präsentiert uns die LP plus die drei vorab erschienenen Single-A-Seiten in einer üppigen Box als Ultimate Mixes.
AUFMACHUNG:
Die Box im 10 Zoll-Format (25x25 cm) enthält zunächst zwei Pappfolder, in denen die CDs und BRs unterbracht sind, ein „WAR IS OVER!“-Poster, zwei Postkarten und ein Buch mit zahlreichen Fotos und Voormann-Grafiken im Hardcover-Einband. Während die CDs einfach so in ihrem Pappdeckel stecken und mehrfaches Entnehmen schnell mit unschönen Haarlinien-Kratzern quittieren, wurden den BRs immerhin separate Hüllen spendiert.
Auch trotz der etwas lieblosen CD-Unterbringung: 5 Sterne.
MUSIK (UND BUCH):
Dieses Album – Johns erstes nach dem Beatles-Split – gilt allgemein als das persönlichste John Lennons. Unter den Eindrücken der gerade absolvierten Urschrei-Therapie besingt er darin den Verlust seiner Mutter, seine Liebe zu Yoko und den Helden der Arbeiterklasse. Er versinkt in Selbstzweifeln und liefert gleichzeitig aufmunternde Durchhalteparolen ab. Das alles in rund 40 Minuten, die in dieser Box auf das zehnfache erweitert wurden.
CD1
Wir hören also nun auf CD1 Album und Singles im so genannten Ultimate Mix, der sich hauptsächlich durch eine größere Präsenz von Johns Stimme und dadurch bedingt etwas leisere Begleitinstrumente auszeichnet. Alles in einem atemberaubend tollen Klang.
Sehr gut: Sämtliche Songs sind sozusagen zum Mitlesen im Buch dokumentiert. Wer, wann, wie und warum... – und dazu noch mit ausführlichen Erklärungen zu den Aufnahmen, Abmischungen usw. Das Ganze wird durch handschriftliche Aufzeichnungen, die so genannten „Recording Sheets“, und zahlreiche Abbildungen von Tape-Boxen ergänzt. Genau das Richtige für Studio-Freaks.
CD2
enthält die 14 Tracks noch einmal als andere Aufnahme-Takes. Besonders fiel mir hier z.B. Well Well Well auf, das in der letzten Minute in einen schönen Instrumental-Part übergeht, der so nicht auf der finalen Version zu hören ist.
Bei Look At Me spielt John die Gitarre noch nicht mit jenem vom Beatles-Song Julia her bekannten Finger-Picking und Give Peace A Chance verströmt ohne das Trommel-Overdub irgendwie Lagerfeuer-Romantik. Bei Cold Turkey schließlich steuert Eric Clapton eine tolle Rhythmus-Gitarre bei.
CD3
Die dritte CD wartet sofort mit einem echten Gänsehaut-Moment auf: Der Titel Mother ist nun als reines acapella-Stück, also nur mit Johns Solo-Stimme, zu hören. Die letzten dreieinhalb Minuten von Love gehören allein Phil Spector und seinem Piano. Cold Turkey ist nun als Instrumental enthalten und Instant Karma! (We All Shine On) im „trockenen“ Ur-Mix ohne Echo.
CD4
Noch mehr Outtakes, nun in „rohen Studio-Abmischungen“, finden wir auf CD4. Unter anderem Love in einer wieder sehr ruhigen Version, die von Spectors Klavierspiel gekonnt eingerahmt wird. Und nun ist der Moment gekommen, an dem wir ein wenig die Orientierung verlieren: gab es den Titel nicht auch schon ohne Klavierbegleitung? Richtig, auf CD2. Und Claptons Gitarre war auf, äh... Mannomann. Langsam wird’s schwierig.
Auch, dass weitere dieser „Raw Studio Mixes“ nur auf den BRs, nicht aber auf den CDs zu finden sind, trägt ebenfalls zu weiterer Verwirrung bei. Warum nur auf Blu-Ray? Auf den CDs wäre genug Platz gewesen, um ausnahmslos alle Lennon-Tracks dieses Sets unterzubringen. Aber nein, Chance vertan. Schade.
OK – schnell noch Give Peace A Chance in einer sechseinhalb Minuten-Version anhören und danach God im ersten Aufnahme-Take, noch ohne Piano. Einfach klasse. Doch schon geht’s weiter mit...
CD5
Hier tauchen wir nämlich vollends ins Studio-Geschehen ein. Quasi als Mini-Dokumentation offeriert uns diese CD so genannte Evolution Mixes, in denen die Entstehung der elf Album-Songs in zum Teil über neun Minuten langen Zusammenschnitten dokumentiert wird. Geradezu überwältigend, wenn man einen Draht zu sowas hat. Leider sind die Gespräche von John und seinen Mitstreitern oft nur schwer zu verstehen. Von My Mummy’s Dead existieren natürlich keine derartigen Studio-Sessions, aber dafür erklärt John kurz, wie schwer es für ihn war, diesen Song zu verfassen.
Nebenbei angemeckert: Auch die Evolution Mixes der drei Singles sind wieder nur auf den BRs enthalten.
CD6
Nach all den oft nachdenklich stimmenden Songs des Albums sorgt CD6 spürbar für Abwechslung: Hier finden wir 22, meist nur kurze, Beispiele von Studio-Jams, in denen die Plastic Ono Band zwischen den einzelnen Aufnahmen ein wenig Dampf ablässt. Rock’n’Roll Standards wechseln mit Schunkel-Songs ab, und am 10. Oktober 1970 (dem Tag nach Johns 30. Geburtstag) unterhält dieser seine Mitstreiter Ringo und Klaus sogar mit einer clownshaften Elvis-Parodie. Bei Don't Worry Kyoko (Mummy's Only Looking For A Hand In The Snow) ist dann auch endlich Frau Lennon einmal zu hören.
Eine Anmerkung kann ich mir dabei nicht verkneifen: Es wertet so ein Track-Listing natürlich ordentlich auf, wenn man mit Get Back und I’ve Got A Feeling gleich zwei Beatles-Originale entdeckt. Doch schnell macht sich in diesem Fall Ernüchterung breit, denn diese entpuppen sich als lediglich rund eine Minute bzw. sogar nur 20 Sekunden lange Gitarren-Improvisationen und sind damit weit entfernt von einem „Song“. Aber gut, Yoko hat’s mit draufgepackt, und Paul McCartney wird sich – Tantiemen sei Dank – auch in Zukunft ein warmes Süppchen leisten können.
Die letzten elf Tracks möchte ich Ihnen nicht unterschlagen: Nun gibt es alle Songs des Albums noch einmal als Lennon-Demos. Teils nur als wüstes Gitarren-Geschrammel, dann aber auch welche, die dem fertigen Song erstaunlich nahe kommen. Und... richtig, die drei Single-Demos gibt’s wieder nur auf den Blu-Rays.
Die BRs
enthalten noch einmal alle Titel der 6 CDs, dazu etliche weitere Lennon-Tracks (die wie schon gesagt alle mit auf die CDs gepasst hätten) und dazu die ungeschnittenen Aufnahmen zu Yoko Onos Version des Plastic Ono Band-Albums sowie ihre drei Single-Rückseiten. Die 14 Songs John Lennons sind außerdem im 5.1-Mix enthalten, der sich jedoch meistens frontseitig orientiert und die rückseitigen Lautsprecher nur sporadisch nutzt.
Machen wir’s kurz: Die 5 Sterne für Musik sind dicke verdient.
KLANG:
Dieses Set hat – abgesehen von einigen Demo-Aufnahmen – eine hervorragende Klangqualität. Man glaubt es kaum, dass die Tonbänder über 50 Jahre alt sind. Beim Mastering wurde zwar die maximal mögliche Lautstärke wie bei allen aktuellen Produktionen so gut es ging ausgereizt, jedoch sind bei leiseren Passagen auch Dynamik-Umfänge von 18dB und mehr festzustellen. Sehr gut!
5 Sterne sind auch hier ein Muss.
Ein paar Gedanken zum Schluss: so toll diese Box auch ist, langsam scheinen die Archive auszubluten. Mehrere der hier enthaltenen Songs sind in der gleichen (!) Aufnahme bereits auf früheren Lennon-Kompilationen erschienen, z.B. war Working Class Hero von CD2 sogar in einer längeren Fassung (inkl. einer kurzen Improvisation von Well Well Well) schon 1998 auf der Lennon Anthology zu haben. Sieben der Tracks wurden – ebenfalls als Ultimate Mix – bereits im Oktober 2020 auf Gimme Some Truth veröffentlicht. Im dortigen Begleitbuch finden wir zudem mehrere Seiten, die so gut wie bild- und wortgetreu dem Buch der hier rezensierten Box entsprechen. Gut, es handelt sich dabei um die gleichen Songs, aber trotzdem hätte ein bisschen mehr Phantasie in der Gestaltung nicht geschadet.
Aber gut, das ist jetzt Jammern auf hohem Niveau. Ich jedenfalls bin nach dieser Box hungrig auf mehr! Freuen wir uns also auf die nächsten Ultimate Mixes...