Die Monument-Aufnahmen des Swamp-Fox
Der spezifische Sound einer Region ist häufig abhängig von der Tradition, der Kultur, den Lebensumständen und eventuell sogar von den klimatischen Bedingungen, die dort vorherrschen. Diese Faktoren haben auch die Musik aus Louisiana, im Süden der USA gelegen, beeinflusst. Die Kultur wurde dort unter anderem von französischen Siedlern geprägt, die vor rund 250 Jahren als Flüchtlinge an das Südufer des Mississippi bei New Orleans kamen, wo es im Sommer heiß und feucht ist. Die Sümpfe von Louisiana waren damals das einzig freie Land, das noch niemandem gehörte. Musikalisch gilt die Metropole New Orleans als Wiege des Jazz sowie als Heimat von Cajun, der traditionellen Musik der französischen Einwanderer und von Zydeco, dem Hybrid von Cajun mit Blues. Dieser Schmelztiegel kultureller Entwicklungen hat daneben noch viele andere musikalische Strömungen aufgesogen, die friedlich nebeneinander oder vermischt miteinander existieren.
In diese Gesellschaft wurde 1943 TONY JOE WHITE in dem Städtchen Oak Grove, im Norden von Louisiana gelegen, in eine Baumwoll-Farm hineingeboren. Obwohl seine neunköpfigen Familie sehr musikalisch war und zuhause unter anderem Gospel und Country gehört und gespielt wurde, interessierte sich Tony Joe bis zu seinem 16. Lebensjahr vorwiegend für Baseball. Dann hörte er den Bluesmann LIGHTNIN` HOPKINS und es war um ihn geschehen. Nachdem er zunächst in Schülerbands die Nachtclubs von Texas und Louisiana aufmischte, kultivierte er danach als Solist seinen eigenen Stil, der als SWAMP MUSIC bekannt wurde. Tony Joe spielt akustische oder elektrische Gitarre - diese nicht selten unter deftigem Einsatz des Wah-Wah Pedals, genannt whomper stomper - sowie Mundharmonika. Sein Bariton-Gesang wird dabei auch schon mal von sexuell aufgeladenen Stöhn-, Brumm, Knurr- oder Fauchlauten begleitet. Er erzählt Geschichten aus dem Alltag in der Tradition der Folkies, verbreitet die Sehnsucht der Country Musik und lässt viel Raum für Einflüsse aus schwarzer Musik, sei es Soul, Funk, Blues oder Rhythm & Blues. Man spürt in seiner Musik die Schwüle der Sümpfe und die Gelassenheit eines Smalltalks auf der Veranda. Sie symbolisiert auch die wilde Zähigkeit, die ein Leben unter klimatischen Extrembedingungen und kargen wirtschaftlichen Verhältnissen erfordert. TONY JOE WHITE spielt und singt mit Inbrunst und Hingabe. Man glaubt ihm jedes Wort, sein Ausdruck ist authentisch. Und seine Stimme ist unverwechselbar. Sie provoziert, gurrt erotisch oder umgarnt einfühlsam. Er zeigt Leidenschaft und spricht dabei die Seele und den Körper gleichermaßen an. Grenzen zwischen schwarzen und weißen Musiktraditionen verschwimmen dabei.
Dementsprechend hieß sein Erstling von 1969 auch BLACK AND WHITE. Er kam auf dem Monument-Label heraus, das durch ROY ORBISON bekannt wurde, der hier insgesamt 18 Hitsingles und 5 LPs rausbrachte. BLACK AND WHITE offenbart schon sämtliche Talente und Qualitäten von Tony Joe. Die Platte ertönt in seinem Trademark-Sound, der sowohl dem primitiven stumpfen Blues eines JOHN LEE HOOKER huldigt als auch die samtene Ehrfurcht des Southern Soul enthält. Auch zickiger früher Funk, Country-Wehmut und schwelgerischer Breitwand-Pop haben da ihren Platz. Manches ist hier noch unausgegoren, wie der Jam-Part in SCRATCH MY BACK und das zu glatt gebügelte LITTLE GREEN APPLES, aber es gibt auch etliche unwiderstehliche Momente, die zu einem insgesamt weit überdurchschnittlichen Gesamteindruck beitragen. Der Opener WILLIE AND LAURA MAE JONES gehört dabei zu den berauschendsten TJW-Stücken überhaupt. Ich kenne keinen anderen Song, bei dem eine Triangel so kreativ, auffällig und prägend eingesetzt wird. Die Dynamik wird durch den Gesang, der sanft-erzählend oder entschlossen-druckvoll sein kann, bestimmt. Fließend-perlende Streicher umranden das variationsreiche Stimmungsbild. Das Wah-Wah-Pedal wird bei der E-Gitarre markant eingesetzt. Das besondere des Songs besteht in der Verschmelzung von unterschiedlichen Gefühlen und Stilzitaten, die zu einem stimmigen Ganzen zusammengefügt werden. Tony Joe White spielt virtuos auf der Klaviatur der Möglichkeiten, eine Spannung über 4:55 Minuten aufrecht zu halten und dabei sowohl eingängig als auch überraschend zu bleiben. Ganz große Kompositions- und Arrangierkunst! Bei den 6 Eigenkompositionen stechen musikalisch SOUL FRANCISCO (war ein Hit in Frankreich) und POLK SALAD ANNIE als beherzte funk-rockige Kreationen hervor. Letztgenannten Song nahm sogar ELVIS in sein Liveprogramm auf. Beeindruckend bei der Ballade ASPEN COLORADO ist das erzählerische Element. Hier wird das erwachsen werden und der damit verbundene Wunsch nach Unabhängigkeit in eine Geschichte gekleidet, die den Mut zur Selbstbestimmung beschreibt, grade wenn man nicht immer den einfachen, bequemen Weg gehen will. Bei den 5 Cover-Versionen überrascht der aus dem STAX-Stall stammende und von JOHNNIE TAYLOR 1968 bekannt gemachte Southern Soul-Klassiker WHO`s MAKING LOVE. Er tönt hier energischer und druckvoller als das Original. Das unkaputtbare WICHITA LINEMAN aus der Feder von JIMMY WEBB, welches ein Riesenhit für GLEN CAMPBELL war, wird würdevoll mit einem untrüglichen Gespür für Pathos an der richtigen Stelle präsentiert. Für die geschmackvolle Produktion sorgte BILLY SWAN („I CAN HELP“). Bei der Umsetzung half unter anderem der spätere NEIL YOUNG-Sideman DAVID BRIGGS an Piano und Orgel.
Das zweite Album von 1969, …CONTINUED betitelt, war kein Schnellschuss, sondern bestätigt den großartigen Eindruck des Vorgängers und bietet ausschließlich Eigenkompositionen ohne jeglichen Ausfall. Furios geht es mit ELEMENTS AND THINGS los. Kräftige Bläserfanfaren und rollende Orgelklänge treiben den Song nach vorne. Befeuert durch trockene Wah-Wah-Licks sowie psychedelische Gitarreneskapaden und marschierende Drum-Muster entpuppt sich der Titel zu einem über 5minütigen Wechselspiel der Gefühle. Neben weiteren in die Beine gehenden Tracks wie ROOSEVELT AND IRA LEE und OLD MAN WILLIS, zeigt Tony Joe, dass er auch seine gefühlvolle Seite perfektioniert hat. Das ist anhand von Spitzenkompositionen, wie dem Deep-Southern Soul Song RAINY NIGHT IN GEORGIA, der zu einem echten Evergreen geworden ist, nachzuvollziehen. Der Titel wurde auch von RAY CHARLES aufgenommen, der dafür berühmt ist, definitive Cover-Versionen zu verfassen. Aber das Original konnte selbst er nicht toppen. WOMAN WITH SOUL ist als Love-Song angelegt, der Track ist aber mit so viel Dynamik und Vitalität versetzt, dass der Rahmen eines schlichten Liebesliedes bei weitem gesprengt wird. Dieses Kunststück wird noch bei I THOUGHT I KNEW YOU WELL und THE MIGRANT wiederholt.
1970 folgte dann schon der nächste Volltreffer mit TONY JOE. Mit den unwiderstehlichen Single-Auskopplungen GROUPIE GIRL und SAVE YOUR SUGAR FOR ME trat er erstmals in mein noch junges musikalisches Leben. Hatte ich bis dahin viel BEATLES und CROSBY, STILLS, NASH & YOUNG gehört, brachte TJW mit seinem für mich nicht eindeutig zu identifizierenden Stilmix und seiner lasziven Vortragsweise eine neue Erfahrung in meinen damals hauptsächlich durch Westcoast-Sound bestimmten Musikgeschmack. Bei TONY JOE ist der Funk-Anteil - ob nun unterschwellig eingebaut oder gradeaus ausgelebt - höher als bei den Vorgängeralben. Songs wie CONJURE WOMAN vibrieren förmlich vor energetischer Aufladung. Eine Ausnahme bildet das betont folkig-bluesige WIDOW WIMBERLY und das gospelige MY FRIEND aus der Feder von DONNIE FRITTS und SPOONER OLDHAM. Insgesamt 4 Fremdkompositionen zieren das Album, wobei HARD TO HANDLE von OTIS REDDING ausgezeichnet zu Mr. White passt und BOOM BOOM von JOHN LEE HOOKER in einer beinahe 8minütigen Version ausgiebig zelebriert wird. Dagegen klingt der Soul-Song WHAT DOES IT TAKE (TO WIN YOUR LOVE), im Original von JR. WALKER AND THE ALL STARS, beinahe brav. Bei den vielen Spitzenkompositionen fällt HIGH SHERIFF OF CALHOUN PARRISH besonders auf. Hier werden die Folgen, die ein Rendezvous mit der Tochter eines allzu mächtigen Sheriffs hat, geschildert. Die Klaustrophobie in der Gefängniszelle wird durch flirrende Streicher eindrucksvoll veranschaulicht. Übrigens wurde als Bonus auf die CD`s der Monument-Jahre jeweils eine Single gepackt. Sie zeigen Tony Joe allerdings als poppigen, leicht verdaulichen Entertainer und bringen deshalb keinen Mehrwert..
Angeblich sollen diese Aufnahmen remastered sein. Ich höre aber keinen Unterschied zu den Original-Veröffentlichungen.