Baumwolle und Sümpfe haben das Leben von Tony Joe White beeinflusst. Lightnin` Hopkins und "Ode To Billie Joe" inspirierten seinen Sound.
Er war ein Innovator, ein begnadeter Song-Schmied und ein cooler Typ, der am 25. Oktober 2018 mit seinem Tod eine nicht zu füllende Lücke hinterlassen hat. Und nun wird sein Werk "The Beginning", was nicht aus frühen Jahren, sondern aus 2001 stammt, neu veröffentlicht. Die Rede ist von Tony Joe White, dem 1943 in Louisiana geborenen Musiker, der den Stil "Swamp Music" definierte und perfektionierte.
Aber der Reihe nach: Tony Joes Vater war ein armer Baumwollfarmer. Der Junge wuchs mit sechs Geschwistern in Goodwill, einem Kaff in Louisiana auf, das nur fünf Meilen von den Sümpfen entfernt lag. Die Arbeit auf den Baumwollfeldern, die Schwüle der Sümpfe und die Erzählungen der Einheimischen prägten sein Handeln und Denken. Im Elternhaus lief hauptsächlich Gospel-Musik und Hillbilly-Country im Radio. Ein älterer Bruder brachte eines Tages eine Lightnin` Hopkins-Platte mit nach Hause, da war es um Tony Joe geschehen. Der Blues hatte Besitz von ihm ergriffen. Daraufhin lernte er Gitarre und Mundharmonika, spielte zunächst bei Schulbällen, später in Nachtclubs und gründete eigene Bands. Als er 1967 "Ode To Billie Joe" von Bobbie Gentry hörte, gab ihm das den Impuls, auch Songs über Geschichten zu schreiben, die er erlebt oder gehört hatte und so entstanden kurz darauf seine Evergreens "Polk Salad Annie" und "Rainy Night In Georgia".
1967 unterschrieb er dann auch seinen ersten Plattenvertrag und brachte bis 1973 sechs wegweisende Alben raus. Seine Songs wurden unter anderem von Elvis Presley, Ray Charles, Dusty Springfield oder Waylon Jennings übernommen. Einen späteren Karriereschub erfuhr er, als vier seiner Kompositionen auf Tina Turners "Foreign Affair" von 1989 landeten. Trotz aller hochkarätigen Referenzen blieb ihm der ganz große Erfolg jedoch versagt. Aber das ist wahrscheinlich gut so, denn deshalb brauchte er keine Erwartungen erfüllen oder brechen und konnte die Musik machen, die aus ihm raus wollte.
Auf diese Weise entstand auch 2001 "The Beginning". Auf dem Werk hört man nur Tony Joe an der akustischen Gitarre und Mundharmonika. Als individuelles Element stampft er den Rhythmus mit dem Fuß und lässt dazu seine unverwechselbare, rauchig-erotische, knorrige Stimme ertönen. Musikalisch kehrt er hier oft zu seinen Anfängen zurück, als er den Blues für sich entdeckte und nach und nach seinen spezifischen, schwül erscheinenden Sound entwickelte. Das verspricht pure Intensität von einem Mann, der seine Emotionen ungefiltert übermittelt, wobei dann die Luft vibriert und die Sinne geschärft werden.
"Who You Gonna Hoo-Doo Now" hört sich an, als wäre der Geist des verstorbenen Blues-Altmeisters Lightnin` Hopkins in Tony Joe White gefahren. Mit Hilfe einer trocken-gelassenen Boogie-Basis wird der wortreiche, 5minütige Folk-Blues zum Laufen gebracht Und das nicht, ohne dass White seine typischen Breaks und Schlenker sowie seine gesanglichen Verführungs-Nuancen wie ein sinnliches Knurren einbringt. 2013 erschien noch eine elektrische und elektrisierende Band-Version des Songs auf dem Album "Hoodoo".
Für "Ice Cream Man" nutzt der "Swamp Fox" genannte Musiker das Multitracking-Verfahren und ist mit zwei Gitarren - in jedem Kanal eine - zu hören, die sich lustvoll umgarnen, ein anregendes Zwiegespräch führen und den Groove hochhalten. Der Track wurde 2004 für "The Heroines" in einer kräftig rockenden Variante mit Dire Straits-Einschlag produziert.
Der bewegliche, lebendige und nachdenkliche Abstufungen nutzende Blues "Wonder Why I Feel So Bad" beginnt mit der klassischen Textzeile "Woke Up This Morning", was immer darauf hindeutet, dass Probleme zu bewältigen sind. Hier geht es um jemanden, der nicht weiß, wie sein Leben weitergehen soll, den die Vergangenheit plagt und der einen Weg sucht, um "dem Morgen ins Auge zu sehen".
Bei "Going Back To Bed" wird ein Wochenende geschildert, dass durch eine lange Party und eine sich anschließende Depression gekennzeichnet ist. Daraufhin wird am Montag blau gemacht. Diese Schilderung geht eine stimmige Verbindung mit der lässigen Trägheit der Noten ein. Der milde, psychedelische Folk-Rock lässt sich treiben, liegt dabei jedoch an lockeren Ketten, so dass White jederzeit für Bindung sorgen kann. Das geschieht durch den durchdringend schmachtenden Gesang, der das Konstrukt auf charmant hypnotische Weise zusammenhält.
Die Liebesgeschichte von "Down By The Border" ist dagegen romantisch geprägt, ohne dass der Ausgang bekannt gegeben wird. Auch die Musik dazu ist ungewöhnlich leichtgängig und transportiert dezent einen lebensfrohen Hauch mexikanischer Volks-Musik.
Rhythmisch verdreht beschreibt "More To This Than That" die ironische Geschichte um einen Mann, der sich in der derzeitigen Welt veraltet vorkommt und Gegenmaßnahmen ergreifen will. Beschwörend, mit erotischer Komponente lässt Tony Joe den schwülen Swamp-Folk-Blues ablaufen, der neben Gitarre und Mundharmonika keine zusätzlichen Instrumente benötigt, um den Raum zu füllen.
Der bedrückende Dark-Folk "Drifter" wurde so eingespielt, dass der Aufnahmeraum akustisch wahrnehmbar ist und deshalb keine sterile Tonstudio-Atmosphäre entsteht. Der "Drifter" verspielt alles und weiß zum Schluss nicht, wo er den Winter überstehen kann. An den Rand der Gesellschaft zu geraten, das ist derzeit der traurige Alltag für viele Menschen in den USA.
"Rebellion" richtet sich an jene Leute aus dem Musikbusiness, die versucht haben, Tony Joe White zu einem Format-Radio-Künstler zu formen. Diesen Ignoranten ruft er zu: "Ich will nicht, dass mir jemand sagt, was ich zu tun habe. Ich bewege mich in meiner eigenen Zeit. Ich spiele diese Musik so, wie ich es will. Ich muss sie am Leben erhalten." Dafür, dass er wütende Ansagen macht, hält sich die Aggressivität des Songs doch sehr in Grenzen. Tony Joe bleibt auch gelassen, wenn ihm etwas auf die Nerven geht und begegnet seinen Kritikern mit einem selbstbewussten Folk-Rock, der sich zwar ziemlich entkrampft anhört, aber dennoch deutlich erzürnte Untertöne aufweist. Von "Rebellion" gibt es noch eine kernige Variante mit kreischend-rauen Gitarren im Neil Young & Crazy Horse-Gewand, die auf "Uncovered" von 2006 zu finden ist.
Der klassische "Rich Woman Blues" erzählt von einer vermögenden Frau, die aufgrund vom Besitz von Ölquellen zu Geld gekommen ist. Ob sie ihren Partner, einen Bluesmusiker, wirklich liebt oder nur mit ihm spielt, bleibt offen. Manchmal verdirbt Geld ja den Charakter. Die Neuaufnahme auf "The Heroines" (2004) beschert dem Zwölftakter eine Bläser-Beteiligung, der ihn in Richtung New-Orleans-Jazz befördert. Für "Raining On My Life" singt Tony Joe anfangs mit sich selbst im Duett, gibt diese Möglichkeit aber schnell wieder auf. Durch die eingängige Melodie und den zündenden Refrain erhält der Blues eine liebliche Pop-Färbung, ohne dass er dadurch an Dringlichkeit verliert.
Der Einfluss von Tony Joe White ist bis heute ungebrochen. Selbst aktuelle Künstler wie JJ Grey & Mofro, G. Love & Special Sauce, Robert Cray, Dharmasoul oder die North Mississippi All Stars haben ihm viel zu verdanken und lassen seinen Sound ehrwürdig weiterleben.
"The Beginning" bietet tolle Musik und wird nun klanglich überarbeitet neu aufgelegt, wobei der Sound nur manchmal (z.B. bei "Ice Cream Man") erfrischt erscheint. Völlig unverständlich ist jedoch, dass gegenüber dem Original von 2001 die Reihenfolge der Lieder geändert und mit "Clovis Green" ein Album-Highlight weggelassen wurde.
Eigentlich erwartet man von gehobenen historischen Schätzen, dass das Umfeld in Form von Bonus-Tracks wie Demo-Aufnahmen oder alternative Mixe erhellt wird und nicht, dass der Ursprung noch beschnitten wird. Das ist ganz klar eine verfehlte Veröffentlichungspolitik. Wer also das Original sein Eigen nennen darf, sollte es wegen der Neuveröffentlichung nicht verkaufen, sondern hegen und pflegen.
Die Liner-Notes der Originalveröffentlichung aus 2001 verkündeten die nachfolgenden Fakten und Empfindungen im Zusammenhang mit der Entstehung des Werks: "Dieses Album begleitet mich schon fast mein ganzes Leben. Über die Jahre hinweg haben mich die Leute immer wieder gefragt, ob ich es jemals machen würde. Jetzt ist es fertig. Ich habe drei Mikrofone im Studio angeschlossen, dem alten Haus mit den hohen Decken und Holzböden. Die Gitarre und die Mundharmonika waren immer in greifbarer Nähe. Vorher verbrachte ich eine lange Zeit damit, beides nicht anzurühren. An manchen Tagen hatte ich ein gutes Gefühl und habe mich hingesetzt und die Musik rausgelassen. In diesen Momenten erlebte ich eine vollkommene Freiheit."
Dem ist nichts hinzuzufügen, denn genau das zeichnet „The Beginning“ aus. Wie argumentierte der Musikjournalist und Buchautor Günter Ramsauer neulich so treffend: „Solo aufzutreten unterstreicht ja immer die Güte der Songs und das Können des Künstlers.“ Beide Qualitätskriterien werden von Tony Joe White voll erfüllt. Kunststück, er gehört ja auch zu den ganz großen Könnern seiner Zunft.