Di-dah-dit, di-dah, dah-di-dit, di-dit, dah-dah-dah...
Kraftwerk: Radio-Aktivität (LP, 180g, Translucent Yellow Vinyl, 2020)
Keine Sorge, da hat Sie jetzt kein PC-Virus heimgesucht. Aber wenn ich an Kraftwerks Radio-Aktivität denke, fällt mir automatisch ein, dass ich mit dieser LP das Morsen gelernt habe. Auch sonst weckt dieser Longplayer einige Erinnerungen an die Zeit von vor... Moment, echt schon 45 Jahren? Was, sogar 46??? Wahnsinn.
Wir blenden zurück: Auch 1975 war das Taschengeld denkbar knapp, und die meiste (neue) Musik hörten Typen wie ich notgedrungen im Radio. Inzwischen hatte ich den vier fröhlichen Wellen good-bye gesagt und stattdessen WDR 2 entdeckt. Wie fortschrittlich das damalige Radio war, bewies u.a. die Schlager-Rallye, die plötzlich einen Titel als Neuvorstellung spielte, der noch gar nicht auf Single erschienen war. Doch man war der Meinung: ''Die Gruppe Kraftwerk hat eine neue LP veröffentlicht, und wir denken, dass der Titelsong als Single ausgekoppelt werden wird. Da Radio-Aktivität mit über sechs Minuten für unsere Sendung zu lang ist, werden wir den Titel nach vier Minuten ausblenden...''. Da hatten die Radiomacher den richtigen Riecher. Das Ding wurde ein Hit, und mich überkam sofort das große Habenwollen.
Aber dank der andauernden Ebbe in den Taschen wurde daraus erstmal nichts. Bis mir dann mein Cousin seine neue Platte präsentierte (jawohl, genau die) und damit sofort zu meinem Lieblingsverwandten avancierte.
Also, nix wie rauf damit auf den Plattenteller. Zuerst drang nur ein monotones ''POCK'' aus den Lautsprechern (ach, darum Geigerzähler), das langsam schneller wurde und schließlich nahtlos in den Titelsong überging. Wir sahen uns nur an: ''Hey, was morsen die denn da?'' (es waren etliche Sessions nötig, um das heraus zu fummeln). Danach testete der Titel Radioland den Frequenzgang der Lautsprecher, die Ätherwellen waren sogar echt tanzbar. Nach einer kurzen Sendepause verrieten uns die Nachrichten, wie viele Atomkraftwerke bereits weltweit in Betrieb waren. Was für eine Platte!
Die Stimme der Energie flößte uns aufgrund ihrer Fremdartigkeit gehörigen Respekt ein, Antenne wurde sofort zu meinem Lieblings-Song von Kraftwerk. Dann gab es leider ein paar Durchhänger und schließlich Ohm Sweet Ohm, das für uns zuerst wie ein Gute Nacht-Lied klang, aber dann tempomäßig gewaltig zulegte. Komm, lass uns die Platte gleich noch einmal hören. Kraftwerk hatte es echt drauf!
Ja, nach Autobahn war auch Radio-Aktivität ein musikalischer sowie philosophischer Trip in die Zukunft. Bald hatte ich dann auch die LP, noch als HÖR ZU-Schallplatte und mit 16 Radio-Aktivität-Aufklebern. In Leuchtfarbe!
Diese liegen der Neuauflage leider nicht mehr bei, dafür hat sich nun das Cover dem Design der Sticker angepasst. Für Nostalgiker/innen ist das Originalcover auf die Innenhülle gedruckt (ja, netterweise fehlt auch der Deutsche Kleinempfänger nicht). Das LP-große Beiheft hat diesmal 16 Seiten und erinnert ansatzweise an die originale Innenhülle, wurde jedoch von Emil Schult neu gestaltet. Die Texte sind mit abgedruckt und zeigen, wie Kraftwerk mit nur wenig Worten viel sagen konnte.
Die Platte ist mit ihrem Translucent Yellow Vinyl (früher hätte man einfach durchscheinendes gelbes Vinyl gesagt) schon optisch eine Augenweide, auch wenn mir das alte Kling Klang-Label besser gefiel als das neue, auf ultra-modern getrimmte Etikett. Gut, auch Kraftwerk geht mit dem Zeitgeist. Was allerdings noch viel besser ist: das Teil klingt atemberaubend gut! Trotz des fehlenden Rußanteils gibt es keinerlei Nebengeräusche. Wo man nichts hören soll, hört man auch nichts. Und wenn was zu hören ist, klingt das wie frisch aufgenommen. Wann war das nochmal? Vor 46 Jahren!
Einziger Kritikpunkt: auch Kraftwerk konnte offenbar der Versuchung nicht widerstehen, bei ihrem Digital Remaster von 2009 die Dynamik zu komprimieren. Wie schon von Torch angemerkt, hört man das besonders deutlich bei den Zischgeräuschen des Titelsongs. Allerdings muss ich gestehen, dass mich das bei der Original-LP schon immer gestört hat und ich darum diese Passage stets nur mit reduzierter Lautstärke abgespielt habe. Aber so hat halt jeder seinen eigenen Hörgeschmack.
Jedenfalls kann ich dieser Neuauflage guten Gewissens in allen Kategorien die volle Punktzahl geben: 5 Sterne!