Wie aus einem Guss: Das Tingvall Trio ist schon lange zu einer akustischen Gemeinschaft zusammengewachsen.
Mit ihrem neunten Album "Birds" feiert das mit etlichen Preisen ausgezeichnete Tingvall Trio ihr 20-jähriges Bestehen. 20 Jahre, in denen Martin Tingvall (Piano), Omar Rodriguez Calvo (Kontra-Bass) und Jürgen Spiegel (Schlagzeug) zu einer harmonisch-kreativen Einheit geworden sind. Ihre Instrumental-Stücke klingen dabei häufig so melodisch wie Kompositionen, die für Gesang ausgelegt wurden. Der Sound ist glasklar und transparent, ohne steril zu wirken. Die Instrumente werden darin räumlich getrennt abgebildet. Sie vereinen und entfernen sich voneinander wie in einem Rausch der Töne von spielenden Kindern.
Während das Piano unter anderem die melodische Grundversorgung übernimmt, wechselt der Bass zwischen Beihilfe zur Harmoniebildung und Stabilisierung des Taktes hin und her. Jürgen Spiegel definiert seine Rhythmusarbeit je nach Anforderung neu. Mal setzt er präzise zyklische Wiederholungen exakt wie ein Uhrwerk und mal ist er der für originelle Zwischenklänge zuständige Gestalter. Im Tingvall Trio und bei seinem Duett-Projekt mit dem Pianisten Vladyslav Sendecki hat er sich mit diesen Fähigkeiten als sehr elastisch-dynamischer Schlagzeuger erwiesen.
Das Album "Birds" "kann dazu anregen, die Umwelt um uns herum anders wahrzunehmen", meint Martin Tingvall und widmet seinen Kompositionen den Vögeln. "Sie umgeben uns tagtäglich mit ihrer Musik und können unglaublich inspirierend sein", fügt er noch hinzu. Aber nicht jeder Titel hat einen direkten Bezug zur Vogelwelt.
Beim Eröffnungsstück "Woodpecker" besteht jedoch sofort eine Erwartung an schnell klopfende Töne innerhalb eines geruhsamen Grundrauschens: Ein Specht hämmert mit seinem Schnabel im ansonsten ruhigen Wald scheinbar aufgeregt gegen einen Baum, diese Schlussfolgerung ist gemeint. Aber mit solch einer banalen Assoziationskette hat man die bildhafte Vorstellungskraft des Trios unterschätzt: Das Stück hat viel mehr Aktivitäten zu bieten als pure Monotonie im Minimal-Art-Gewand. Der Specht hat ja schließlich auch noch mehr zu tun, als Futter aus der Rinde zu klopfen oder Nisthöhlen zu erschaffen. Und deshalb bildet der Track auch nicht nur eine Situation, sondern das pralle Leben ab, um im Specht-Alltags-Bild zu bleiben.
"Africa" wirkt durchaus fröhlich, geschäftig, rhythmisch ausgelassen, fernab von einer betulichen Feuilleton-Beitrags-Untermalungs-Szenerie. Das Bass-Solo ersetzt die fehlende Stimme, das Piano glänzt und funkelt in der Sonne und das Schlagzeug freut sich des Lebens.
Der Bass sendet die möglicherweise lebensrettenden Signale bei "SOS" aus, das Piano erzeugt Dramatik und die Percussion fährt eine hohe Pulsfrequenz. Der Ausgang dieser Aktion bleibt jedoch im Ungewissen.
Es gab einen Film mit dem Titel "The Day After". Da ging es um den Tag nach einer Atombombenexplosion. Wer dieses inszenierte Grauen einmal gesehen hat, der wird die schrecklichen Bilder nie wieder vergessen. "Die Lebendigen werden die Toten beneiden" hieß es da, was den dargestellten Horror plastisch und drastisch in Worte fasst. Tiefe Traurigkeit wird auch durch die Komposition "The Day After" vermittelt. Auch wenn die dahinter stehenden Gedanken nichts mit der Endzeitstimmung des Films zu tun haben, so scheint in der Vorstellung auf jeden Fall vor einem Tag etwas Erschütterndes vorgefallen zu sein.
Es gibt Meisterschaften, bei denen die besten "Air Guitar"-Spieler prämiert werden, die ihr Handwerk aber meistens zu Heavy Metal-Klängen vortragen. Für die Musik von "Air Guitar" wird stellenweise ein harter, kurzer Anschlag der Tasten gewählt, der als Gitarrenakkord gewertet werden kann, womit die Verbindung zur Luftgitarre hergestellt wäre. Ansonsten handelt es sich um ein wildes, schnelles Stück mit perlenden McCoy-Tyner-Gedächtnis-Ton-Kaskaden.
Vögel im Allgemeinen und Paradiesvögel im Besonderen sind die akustischen Themen der nächsten beiden Stücke ("Birds" und "Birds Of Paradise"). Der gestrichene Kontra-Bass verbreitet für "Birds" eine kammermusikalische Dramatik und Schwere, während sich die Piano-Töne luftig-leicht, fantasievoll und beschwingt in die Höhe erheben.
Die Paradiesvögel von "Birds Of Paradise" sind darauf bedacht, Haltung und Stolz zu bewahren. Sie bewegen sich deswegen zunächst galant-bedächtig. Wenn sie sich aber unbeobachtet fühlen, sind so auch ungezügelt unterwegs. Gleichwohl beherrschen sie es, sich stets anmutig und einfallsreich zu bewegen.
Romantische Klassik-Piano-Partituren leiten "The Return" ein. Diese sentimentale Stimmung geht in einen ruhigen kammermusikalischen Jazz über, bei dem die melodische Komponente an erster Stelle steht.
Der Kleiber ist ein etwa 15 Zentimeter kleiner, blau-oranger Vogel, der nur ungefähr 25 Gramm wiegt und eilig an Bäumen rauf und runter laufen kann, um in der Rinde nach Insekten zu suchen. Der Track "Nuthatch" entspricht erst in der zweiten Hälfte hinsichtlich des Tempos und der Dynamik dem umtriebigen Verhalten des auch Spechtmeise genannten gefiederten Waldbewohners. Vorher hinterlassen die Klänge eher den Eindruck eines gemächlichen Tagesablaufs mit wenig Aufregung.
Der Kolibri ist dafür bekannt, dass er enorm schnell mit den Flügeln schlagen kann. So fix, dass es ihm gelingt, wie ein Hubschrauber auf der Stelle in der Luft stehen bleiben zu können. "Humming Bird" bildet diesen außergewöhnlich raschen Bewegungsablauf nicht akustisch ab, das Piano sondert aber zittrige Klänge ab, die unter Umständen als Flügelschläge gedeutet werden können. Im Kern ist der Track aber eine klassische Piano-Trio-Jazz-Komposition mit lauten, leisen, schnellen und langsamen Tönen im Wechsel.
Die Nacht hat viele Gesichter und deshalb zeigt "Nighttime" auch mehr als nur eine musikalische Seite. Das Stück ist meditativ, aber über die Gelassenheit hinweg wird improvisiert. Die Musiker generieren auch einen lebhaften Ausdruck und finden eine feine Melodie als Orientierung.
"A Call For Peace" ist heute wieder wichtiger denn je und die Aussage soll als Mahnung und Gedenken stehen bleiben. Die Noten ringen um Fassung, aber die Traurigkeit lässt sich in diesem Piano-Solo-Stück nicht gänzlich verdrängen.
20 Jahre Tingvall Trio in Erstbesetzung. Und das ohne Ermüdungserscheinungen. Was für eine erstaunliche Leistung! Herzlichen Glückwunsch dazu und alles Gute für die nächsten 20 Jahre! Um den Eingangs-Gedanken nochmal aufzugreifen: Wie wäre es denn, wenn bei der nächsten Veröffentlichung tatsächlich Vokalisten eingebunden würden, die als zusätzliches Instrument dienen? Mit dieser Innovation hätte das Trio zumindest neue Herausforderungen zu bewältigen, die ihren Gestaltungs-Prozess weiter am Laufen halten.