Boah: Was für eine herrlich bunte, verrückt-spaßige Zumutung!
Unberechenbar, ungezügelt, ungekünstelt und unangepasst. So präsentiert sich der Sound des Septetts Botticelli Baby aus Essen seit zehn Jahren. Pünktlich zum Jubiläum brachte das Ensemble nach "SAFT" aus 2021 mit "Boah" am 27. Oktober 2023 ihr viertes Album raus. Für die Beschreibung der Musik haben sich die Band-Mitglieder den Ausdruck "Junk" ausgedacht, der eine Mischung aus Jazz und Punk bedeuten soll. Diese Wortfindung wird dem Stil-Mix aber nicht voll gerecht, denn es stecken noch viel mehr Elemente in den Songs drin. So kann der Titel "Boah", der für einen Laut der Überraschung oder Verblüffung steht, durchaus auch auf die Wirkung der frischen, reiz- und temperamentvollen Klänge der Platte übertragen werden.
Bloß nicht vom "Intro" täuschen lassen und davon auf den Rest der Stücke schließen! Botticelli Baby haben schon bei "SAFT" mit ihrer launigen, stimmungsvoll eröffnenden Balkan-Zirkus-Nummer "Prelude" die Hörer und Hörerinnen auf die falsche Fährte geführt. Dieses Spielchen wiederholen sie nun wieder: Das Orgel-Solo klingt nach Gottesdienst, die Klänge sind mächtig und es werden schwere, lang gezogene Noten gespielt. Das ist Dramatik pur!
Der moderat anklagende bis feurig-aggressive Sänger Marlon Bösherz verwandelt beim sich anschließenden "Poems" die vorherige, angespannte Verfassung in humane Betroffenheit, die sich nach und nach bis hin zur ungezügelten Leidenschaft steigert. Das stürmische Schlagzeug von Tom Hellenthal und das wild entschlossene Power-Bläser-Trio um Alexander Niermann (Trompete), Max Wehner (Posaune) und Christian Scheer (Saxofon) folgen ihm dabei aufmerksam sowie gleichzeitig saft- und kraftvoll. Die Tasteninstrumente werden derweil von Lucius Nawothnig abwechslungsreich zur Bildung einer atmosphärisch dichten, brodelnden Zweckgemeinschaft eingesetzt. Die E-Gitarre von Jörg Buttler spielt bei diesem Klang-Zirkus allerdings nur eine untergeordnete Rolle.
Das sieht bei "Storms On My Skin" ganz anders aus. Die zackige Gitarre bestimmt den treibenden Funk-Rhythmus, sie kann aber auch auf Folk-jazzige Weise sensibel glitzernde Töne hervorbringen. Das druckvolle Bläser-Gespann und der nörgelnd-grummelnde Bass setzen sich allerdings immer wieder dominant durch und dadurch attraktiv in Szene. Psychedelischer Jazz-Rock ist eine Beschreibung, die als Annäherung an diese Klänge Sinn macht. Sie beschreibt aber nur die Hauptbestandteile des Songs, die Feinheiten sind jedoch genauso wichtig und schließen unter anderem Kraut-Rock mit ein.
"We're One" setzt danach auf einen swingenden Jazz-Groove, der sich frech und munter vom traditionellen Alt-Herren-Swing abgrenzt.
Mit "Blue Dots" geht es auf vergleichbar energischem Niveau weiter. Für die Komposition wurden Dixieland-Spielarten benutzt, die völlig auf den Kopf gestellt sind. Als Ergebnis dieser Transformation entsteht ein Wirbel aus sprudelndem New-Orleans-Jazz und überdrehtem Hippie-Rock. "Mit den 'Blue Dots' ist der blaue Himmel hinter den weißen Wolken gemeint. Man schaut in den Himmel und denkt fast automatisch über etwas Vergangenes nach. In diesem Fall über den Suizid einer geliebten Person und darüber, ob man vielleicht eine Mitschuld an der Entscheidung trägt, das eigene Leben zu beenden", erklärt Marlon Bösherz den Beweggrund des Liedes.
Eine flirrende Resonator-Gitarre und locker-flockiges Drum-Klickern lauten zusammen mit einem freundlich gestimmten Gesang den entspannten Song "Lips" ein. Danach übernehmen Blasinstrumente, die darauf aus sind, dass weiterhin Harmonie die Vorherrschaft behält. Dieser Reigen wiederholt sich anschließend in leicht abgewandelter Form, wobei sich besonders alles, was mit dem Mund gespielt wird, durch Fantasie und Einfühlungsvermögen stark auszeichnet.
Aufsässig, laut und monoton macht sich "Digge Digge Dig" Luft und kommt damit dem provozierend-primitiven Punk-Gedanken, der im Bekenntnis "Junk" verankert ist, sehr nahe.
Hitzig und nervös geht es bei "Bloody Orgasm" zu. Plötzliche Dynamik- und Tempo-Wechsel lassen den Track noch aufgewühlter, streitbarer und angriffslustiger erscheinen, als er ohnehin schon ist, "Dieter Grey" gibt auf Deutsch Erläuterungen dazu ab, wie der Name Song-Kollektion ausgesprochen und verinnerlicht werden kann: "Gehen Sie in den Schneidersitz, recken Sie die Arme nach oben, soweit es geht. Am besten zur Glühbirne über Ihnen und sagen Sie in aller Deutlichkeit und aus tiefstem Herzen 'Boah'". Fortgesetzt wird diese Anleitung mit einer schwülen Nachtclub-Jazz-Nummer, die man sich gut in einer verräucherten Bar zur Blauen Stunde kurz vor Sonnenaufgang vorstellen kann. Dann, wenn fast alle Gäste das Etablissement verlassen haben und die Band ihre letzten Reserven mobilisiert. So euphorisch wie hier hat wohl noch niemand das Thema Depressionen vertont.
Die Aufnahmen von "SAFT" beschrieben Botticelli Baby als vielschichtig und facettenreich. Selbiges gilt auch für "Boah". Das häufige Auftreten vor Publikum hat die Musiker handwerklich reifer und dadurch noch sicherer und einfallsreicher werden lassen. Sie trauen sich nun sogar, ihre Instrumente noch ausführlicher und kunstsinniger Geschichten erzählen zu lassen, wobei die Soli nie selbstverliebt, sondern immer vollmundig-köstlich und im Verhältnis zu konventionellen Jazz-Combos doch relativ knapp sind. "Boah" macht Spaß, ist pfiffig, gehaltvoll und ideenreich. Aber mit knapp 27 Minuten Laufzeit ist das kurzweilige Werk definitiv viel zu kurz!