Beeindruckende Aufführung – mangelhafte klangliche Aufbereitung
Der Livemitschnitt der Johannes-Passion unter der kenntnisreichen Leitung von Masaaki Suzuki entstand im Bach-Jahr 2000 in der berühmten Tokioter Suntory Hall. Mein Eindruck nach etwa der ersten Hälfte von Teil I: So klinisch wie der Klang in dem profanen Saal – Aufführungen von Bachs Sakralmusik, insbesondere seiner Passionen, gehören für mich in einen sakralen Raum – so klinisch rein wirkt scheinbar auch die Aufführung, weitgehend abgeklärt und recht distanziert interpretiert. Doch der erste Eindruck täuscht, denn im weiteren Verlauf des Passionsgeschehens darf man miterleben, wie sich nicht nur sämtliche Sänger gleichsam freisingen und in ihren Rollen aufgehen sondern wie die musikalische Spannung parallel zum dramatischen Karfreitagsgeschehen zunimmt, wie gesangliche bzw. spieltechnische Reserven mobilisiert werden. Suzuki vermeidet freilich jede Theatralik und alles Opernhafte, das man bei anderen Dirigenten mitunter erlebt hat, er lässt in zwar zügigen, aber niemals forschen Tempi musizieren, gestaltet die Passion schnörkellos und ohne dynamische Extreme wie aus einem Guss und stellt sich dabei demutsvoll ganz in den Dienst der Musik und ihrer Aussage – aus meiner Sicht vorbildlich. Überhaupt lässt sich hier studieren, wie der ehemalige Koopman-Schüler Masaaki Suzuki seinen ganz eigenen, innerhalb der historischen Aufführungspraxis diametral entgegengesetzten musikalischen Weg gefunden hat, sehr zum Vorteil der Musik.
Mit Ausnahme des versierten Evangelisten Gerd Türk wirken sämtliche Vokalsolisten im stimmlich bestens disponierten 16-köpfigen Chor mit. Die Solistenriege gehört Suzukis Stammbesetzung für Bachsche Vokalwerke an, und sie alle wirkten und wirken prägend und kenntnisreich in der Kantatengesamteinspielung Suzukis für das schwedische Label BIS mit. Hier agieren sie tadellos bis berückend, hervorheben möchte ich besonders die Darstellungen der beiden noch jungen Sänger Robin Blaze (Countertenor) und Stephen MacLeod (Bass, Christusworte).
Die Rezitative und Continuo-Arien begleitet Suzuki eigenhändig am dreimanualigen, historischen Cembalo, während für größer besetzte Arien ein weiteres Cembalo sowie ein Orgelpositiv zur Verfügung stehen. Sehens- und hörenswert ist das optisch alles überragende Kontrafagott in gestreckter Bauform, dessen musikhistorische Verwendung als Continuo-Instrument in der Johannes-Passion belegt ist. Auch das übrige Holzbläser- und schlank besetzte Streicherensemble musiziert bis in die Soli hinein angenehm zurückhaltend, sich stets dem großen Ganzen unterordnend.
Die Bildregie vermeidet schnelle Schnitte und Kamerafahrten ebenso wie extreme Nahaufnahmen, was dem konzentrierten und introvertierten Blick auf das Geschehen zugutekommt. Bedauern mag man lediglich die fehlende Kamera für den frontalen Blick auf die Mimik des Dirigenten, den man in knapp zwei Stunden allzu monoton im Profil zu sehen bekommt.
An den technischen Details schließlich muss ich deutlich Kritik üben. Wer auch immer bei der Nachbearbeitung geschlampt hat, hat es gründlich getan: Das Bild wirkt wenig farb- und kontrastreich und gelegentlich unscharf, wie hinter einem grauen Nebelschleier. Noch übler aber geriet der Ton. Die Höhen sind stark zurückgenommen, Zischlaute im Gesang etwa sind nur vermindert wahrnehmbar und schmälern die ansonsten vorzügliche Textverständlichkeit auf technischer Seite. Außerdem scheint der Klang extrem dynamikkomprimiert zu sein, was schon beim Crescendo der Orchestereinleitung und dann beim Choreinsatz des Eingangschores "Herr, unser Herrscher" äußerst unangenehm auffällt. Und schließlich baut sich nicht die geringste Klangbühne auf, weder im Stereo noch im Surround-Modus. Für diese Fehlleistung muss ich ein nachdrückliches "mangelhaft" vergeben, das sich auf meine Gesamtbewertung mit einem Sternabzug auswirkt. Es wäre zu wünschen, dass der berührende Livemitschnitt bald in bild- und klangtechnisch optimierter Form wieder angeboten wird.