Lebenszäsur
Hier geht es um Liv, die äußerlich sicher und zufrieden in Oslo mit Ehemann und zwei Kindern lebt. Was aber außer dem Leser und Livs bester Freundin Frances niemand weiß: Liv ist in ihrer Jugend vergewaltigt worden. Seitdem ist ihr Leben ein anderes geworden, alles ist von der Tat überschattet. Man erhält Einblick in eine Gedankenwelt, die alles mit dem Missbrauch verknüpft. Man lernt eine Frau kennen, die Situationen in gefährlich und ungefährlich unterteilt; die versucht, in Menschen Opfer oder Täter zu erkennen; die sich zwar vehement gegen die Opferrolle zur Wehr setzt, aber deren Gedanken doch viel zu oft um das Vergangene kreisen. Als Leser bleibt man leider immer sehr distanziert zur Hauptperson, weil diese selbst ihre Welt nur aus der Distanz betrachtet. Sie lebt nicht wirklich, sondern das Leben findet um sie herum statt.
Dieser Roman hilft, sich in die Gedankenwelt eines Opfers (denn Liv ist nun mal ein Opfer, auch wenn sie keins sein will) hineinzuversetzen. Wahrscheinlich ist es ein Kunstgriff der Autorin, die Tat nur vage anzudeuten, aber mir fehlt es an Fakten:
Liv ist angetrunken ohne Zwang dem Täter in die Wohnung gefolgt. Sie hat keine Erinnerung mehr daran, ob sie *NEIN* gesagt, oder nur gedacht hat.
Aber was geschah unmittelbar davor? Worüber haben sich die beiden unterhalten, war der Täter ebenfalls alkoholisiert, hat man sich geküsst? Wurde körperliche Gewalt angewendet?
Vor allem, wenn sie nicht hörbar *NEIN* gesagt hat, wie ist dann die Gesamtsituation zu bewerten?
Aufgrund dieser Fragen fällt es mir schwer, den detaillierten Gedankengängen adäquat zu folgen und ich kann das Buch auch nicht uneingeschränkt empfehlen.
Ich würde Liv wünschen, dass sie ihren Weg in die Freiheit findet, denn sie ist eine tolle, sympathische Frau, die es nicht verdient hat, wegen einer einzigen schrecklichen Stunde sich ihr Leben lang klein zu fühlen.