Eine Frau, die erst spät zu ihrer Stärke findet
Elsinore „Elsa“ Wolcott ist 24 Jahre alt und eine sehr stille, fast unsichtbare junge Frau. Sie hat, wie ihr immer wieder eingetrichtert wird, von allem zu viel. Sie ist mit ihren stattlichen 180 cm zu groß, zu dünn und zu blass. Durch ihr rheumatisches Fieber, das sie als junges Mädchen hatte, haben sie ihre Eltern „abgestellt“. Sie wächst ohne Liebe und Zuneigung auf, traut sich selbst nichts zu, sieht sich selbst als sitzengebliebene Jungfer. Bis am Abend vor ihrem 25. Geburtstag. Da zieht sie ein selbstgeschneidertes rotes Kleid an, geht in die Stadt und lernt den 18-jährigen Raffaello Martinelli, Sohn italienischer Einwanderer, kennen und lieben. Als sie von ihm schwanger wird, schieben sie ihre Eltern in die neue Familie ab und sagen sich von ihr los.
Es ist fast unvorstellbar, was die junge Frau, die mit dem goldenen Löffel im Mund im Norden von Texas geboren wurde, hier auf der Farm ihrer Schwiegereltern alles erdulden muss. Sie kann weder kochen noch putzen, kennt sich im Garten und in der Scheune nicht aus. Aber sie lernt schnell. Und vor allem gehört sie mit der Zeit dazu. So, wie sie es sich immer gewünscht hatte. Irgendwo dazuzugehören. Dann bringt sie die kleine Loreda zur Welt und 5 Jahre später ihren Sohn Anthony.
Es beginnt die Zeit der Trockenheit, des Börsencrashs, der Dürre und des Hungers. Raffaello verlässt die Familie und später geht auch Elsa mit den Kindern nach Kalifornien.
Mir ist es immer wieder unverständlich, wie Eltern mit ihren Kindern so lieblos und unnahbar umgehen können, bloß weil sie einen kleinen Makel haben bzw. den eigenen Vorstellungen nicht gerecht werden. Da muss man sich wundern, wie viel Liebe und Zuneigung Elsa selbst ihren Kindern zu geben imstande ist.
Ihre Wandlung vom behüteten Mädchen zu einer zupackenden Frau, die sich schon auf der Farm ihrer Schwiegereltern vollzieht und die sich in ihrem neuen Zuhause fortsetzt, hat mir sehr gut gefallen. Was sie und ihre Kinder durchmachen müssen, die ganze Arbeit, die Rückschläge, die Existenzangst und ihre Not hat die Autorin sehr gut in einer Geschichte verarbeitet, die, wie ich finde, sehr eng an die damaligen Verhältnisse angelehnt sind.
Nach „Liebe und Verderben“ ist dies das zweite Buch von Kristin Hannah, das ich gelesen habe. Ab jetzt werde ich die Autorin mit ihrem sehr sensiblen, feinfühligen und doch so eindrucksvollen Schreibstil im Auge behalten.
Sie beschreibt sowohl die Familie von Elsa, als auch die Schwiegereltern, Raf, auch ihre Freundin Jean und die anderen Menschen, die ich hier kennenlerne auf eine sehr leichte, aber eindringliche und sehr gut vorstellbare Art. Vor allem während der harten Zeiten, der Sandstürme, des Hungers, der Entbehrungen und der Verluste kann ich mir die Menschen sehr gut vorstellen. Und wie wahrscheinlich jede Mutter hat auch Elsa so ihre Probleme mit ihrer Tochter Loreda, die hier nachvollziehbar beschrieben sind.
Ein fantastisches Buch über Familie und Mut, den man sich immer bewahren sollte. Eines meiner diesjährigen Lesehighlights mit einigen Gänsehautmomenten und feuchten Augen.