Rarities einer Jahrhundert-Stimme
Es beginnt mit ARIADNE AUF NAXOS von Richard Strauss, aufgenommen knapp eine Woche nach Nilssons 31. Geburtstag, am 23. Mai 1949 in Stockholm unter der Leitung von Herbert Sandberg. Gesungen wird natürlich in der schwedischen Landessprache, die Nilsson in der Rolle der Ariadne, Set Svanholm gibt den Bacchus und die junge Elisabeth Söderström ist als Echo zu vernehmen. Birgit Nilsson war drei Jahre nach ihrem offiziellen Operndebüt (1946 als Agathe im FREISCHÜTZ) noch nicht "La Nilsson", sondern eine lyrische Sopranistin mit hellem Stimmklang und in einigen Passagen bereits vorausdeutend auf eine spätere Karriere im jugendlich-dramatischen Fach.
Die CD macht dann einen enormen zeitlichen Sprung ins Jahr 1974. Am 27. November sang Nilsson unter Ferdinand Leitner die Brünnhilde in Wagners GÖTTERDÄMMERUNG an der Seite von Jean Cox als Siegfried. "Zu neuen Taten, teurer Helde" aus dem Prolog ist insofern bemerkenswert, als die inzwischen 56-Jährige beim Schlusston nicht nur ihren Partner, sondern auch das gesamte Orchester in Grund und Boden singt - eine wahrlich einzigartige Demonstration von Selbstbewusstsein und purer Kraft.
Man schrieb das Jahr 1967 und befand sich am 12. November in der Philharmonic Hall in New York. Die Nilsson auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, der Pianist John Wustman eher unauffällig. Es beginnt mit der Arie der Cleofide aus ALESSANDRO NELLE INDIE von Niccolò Piccinni. Eine echte Rarität - ein Stück aber auch, das nicht wirklich zum Stimmtypus der Nilsson passt. Allerlei Liedgut von Franz Schubert über Richard Strauss bis hin zu Jean Sibelius und Carl Nielsen kommt der Sache schon näher, obwohl die Nilsson zu keiner Zeit ihrer Karriere eine wirklich überzeugende Liedsängerin war. So gönnt sie sich zwischendurch mal das "Vissi d'arte" aus Puccinis TOSCA, das mit Klavierbegleitung aber auch nicht so authentisch klingt.
John Wustman ist auch der Begleiter in einem Konzert, das Birgit Nilsson am 30. April 1972 in der Carnegie Hall in New York gegeben hat. Das Konzert beginnt mit der Auftrittsarie der Elisabeth aus Wagners TANNHÄUSER - auch dieses Stück ist mit Klavierbegleitung ungewöhnlich für die Ohren. Mörike-Lieder und Goethe-Lieder von Hugo Wolf schließen sich an, gefolgt von Richard Strauss, Edvard Grieg, Wilhelm Peterson-Berger, Erikki Gustav Melartin und Emil Sjögren. Mit "Ebben... ne andró lontano" aus LA WALLY von Alfredo Catalani kommt die Nilsson erstaunlich gut zurecht. Der Rest sind wohl Zugaben, bei denen die Nilsson dem Affen ordentlich Zucker gibt und ihre komödiantische Ader ausleben kann: "I remember when I was 17" klingt hübsch, war aber bei der Centennial Gala an der MET 1983 raffinierter verziert, bei "Im Prater blüh'n wieder die Bäume" schwelgt die Nilsson hörbar in der Melodie, "La Foletta" von Salvatore Marchesi ist ein Kabinett-Stückchen und "Wien, Wien, nur du allein" sowieso ein Lieblingssong der Nilsson.
Hochinteressant sind die Ausschnitte vom Swedish Festival 1967 mit Sergiu Celibidache, meines Wissens das einzige Zusammentreffen der beiden Ausnahme-Künstler im Laufe ihrer Karrieren. Die Wesendoncklieder Nr. I, IV und V kommen zu Gehör - ob die anderen beiden auch aufgenommen, aber nicht veröffentlicht wurden, entzieht sich meiner Kenntnis. Die Lesart der Nilsson unterscheidet sich kaum von anderen ihrer Aufnahmen. Das Vorspiel zum 1. Akt des TRISTAN ist dann aber ein "echter" Celibidache, während beim Liebestod wieder die Nilsson das Zepter übernimmt.
1967 scheint La Nilsson sehr aktiv auf dem Konzertpodium unterwegs gewesen zu sein. Am 24. September im Teatro Colon in Buenos Aires unter dem Dirigat von Roberto Kinsky. Beethovens "Ah, perfido! Op. 65" zeigt Nilsson mal nicht in bester stimmlicher Verfassung - hier leistet sie sich tatsächlich sogar einen falschen Einsatz, auch klanglich ist dieses Stück nicht optimal geraten. "Pace, pace mio Dio" aus LA FORZA DEL DESTINO von Verdi habe ich von der Nilsson auch schon besser gehört, letztlich überzeugend ist dann aber doch "In questa reggia" aus Puccinis TURANDOT.
Vom Konzert am 1. November 1967 am selben Ort mit Ferdinand Leitner (diesmal am Piano) sind nur Auszüge veröffentlicht worden: 1 Lied von Sibelius, 2 von Grieg und 2 Zugaben, die wir aber aus dieser Zusammenstellung bereits kennen.
Das Booklet ist mager und nur englisch-sprachig.
Insgesamt ist dies eine Produktion, die in jede Nilsson-Diskografie gehört, weil tatsächlich viele der enthaltenen Stücke nirgendwo sonst veröffentlicht wurden oder zugänglich sind. Birgit Nilsson bewegt sich auch in den Ausschnitten von 1967 und 1972 nicht mit der selbstverständlichen Souveränität ihrer Opernauftritte dieser Jahre - aber vielleicht ist auch gerade deshalb der Titel der Sammlung absolut zutreffend: RARITIES. 4 Sterne ohne Bedenken.