Hindemith? - Her damit! Aber Vivaldi?
Diese CD bietet ein ungewöhnliches Programm: Aufnahmen von Hindemith und Prokofieff aus den Jahren 1974 und 1972 mit der Academy of St. Martins in the Fields unter Marriner und von Bartók und Vivaldi aus dem Jahr 1962 mit dem Moskauer Kammerorchester unter Rudolf Barshai. Im Mittelpunkt des Interesses stehen hier weniger die bekannteren Komponisten, sondern zum einen Rudolf Barshai, der hier nicht nur einen furiosen Bartók und einen überraschend leichtfüßigen Vivaldi dirigiert, sondern ebenfalls die ursprünglich für Klavier konzipierten Prokofieff-Visionen für Streichorchester bearbeitete, und zum anderen Paul Hindemith, der, ebenso wie Barshai, Bratschist und Dirigent war. Hinzu kommt ein gewisser Blick auf die Erneuerung des barocken Concerto Grosso im 20. Jahrhundert: Während die Stücke von Hindemith und Prokofieff mit Kontrasten zwischen Soloinstrumenten und Tutti arbeiten, könnte man Bartóks Divertimento durchaus als neo-klassizistisches Concerto Grosso auffassen. Die beiden Werke von Vivaldi, die gewissermaßen hier als Anhang fungieren, zeigen aus der Sicht von 1962, wie ein barockes Concerto auch als Concerto grosso funktionieren konnte, da Vivaldi die vier Violinen (und das Cello beim ersten Konzert) beinahe in die Rolle eines Concertino drängt.
Die Vivaldi-Stücke werden für damalige Verhältnisse bravourös gespielt, etwas langsamer als die Maßstab setzenden neueren Einspielungen auf historischem Instrumentarium, aber dennoch stets "vivace" und im brillanten Klangbild, wobei natürlich durch die "modernen" Instrumente das Ganze eine Klangfärbung gewinnt, die Vivaldi wohl nicht kannte.
Die fünf Stücke von Hindemith werden von der Academy absolut überzeugend gespielt. Allerdings muss man sich diese Stücke aus Hindemiths "Schulwerk für Instrumental-Zusammenspiel" öfters anhören, ehe sie anfangen, wirklich zu begeistern. Das können sie aber - ich bin dabei, es zu erleben.
Prokofieffs "Visionen" sind die musikalische Umsetzung einer Gedichtzeile Balmonts: "In jeder flüchtigen Vision sehe ich Welten,/ Voll des Regenbogen-Wechselspiels." Tatsächlich wird jeder hier, vermutlich auch bei jedem erneuten Anhören, einen anderen Eindruck bekommen - was vermutlich bei einem spät- bzw. postimpressionistischen Werk der Zweck der Sache sein soll. Jedenfalls packt Prokofieff - eigentlich Barshai, der nicht alle Klavierstücke arrangierte - ein riesiges Spektrum an Gefühlen in die gut 17 Minuten. Leider gibt es im Beiheft keine weiteren Angaben zu den einzelnen Vorlagen, so dass man beim Hören auf sich allein gestellt ist.
Bartóks Divertimento entstand 1939, kurz vor Ausbruch es Zweiten Weltkriegs. Während die beiden schnellen Außensätze Bartók-typisch mit Rhythmus und Kontrapunktik spielen, scheint der düstere, bedrohliche Mittelsatz die Schrecken der noch künftigen Kriegsjahre vorwegzunehmen.
Insgesamt ist dies eine Platte für Freunde des Streichorchesters im 20. Jahrhundert. Der Klang ist ganz und gar nicht historisch, sondern entspricht dem üblichen hohen Decca-Standard. Ein Unterschied in der Akustik zwischen den beiden Aufnahmesitzungen der Academy und des Moskauer Kammerorchesters, das damals wohl in London aufspielte, ist bei normalem Wiedergabegerät nicht festzustellen. Das nur englischsprachige Beiheft beschränkt sich auf Hintergrundinformationen und wenigen äußerst knappen Anmerkungen zur Musik.