Eine eiskalte und geheimnislose Hohe Messe
Mitwirkende sprachen von „ihrem beglückendsten Musiziererlebnis im Jahr 2016. Schon deshalb durfte man auf die Neueinspielung der Messe h-moll von Johann Sebastian Bach durch Rudolf Lutz und seine J. S. Bach Stiftung St. Gallen gespannt sein. Auch anderweitig wurde heftig Lorbeer gestreut – siehe etwa die Kommentare auf der Verkaufsplattform „jpc“. Allein, der Höreindruck enttäuscht den kritischen, nicht HIP-gläubigen Hörer auf der ganzen Linie: Der Dirigent hetzt rastlos in genau 100 Minuten durch die Partitur, nirgends ein Besinnen, kein Verweilen, kein Atemholen. Das Werk rauscht, wahrscheinlich historisch korrekt – wir wissen's ja nicht -, jedoch eiskalt und geheimnislos vorüber. Musik, die, wie Carl Philipp Emanuel Bach sagte, „ins Ohr fällt, es ganz ausfüllt, aber das Herz leer lässt“.
Andere Hörer preisen etwa „die Durchsichtigkeit, die Kraft, die feinen Nuancen der selbständigen verschlungenen und sonst oft verwischten Linien“ - die bekannten Fetische von HIP. Wir hören stattdessen ein enervierend-undifferenziertes Dauerforte, mit dem uns inzwischen auch die Organisten als dem angeblich „korrekten“ Bach-Spiel peinigen (zum Beispiel Kazuki Tomita, ausgerechnet der Gewinner des 1. Preises im Fach Orgel des XX. Internationalen Johann-Sebastian-Bach-Wettbewerbs Leipzig 2016!). - Einzig am Beginn des „et in terra pax“ oder im „sepultus est“ ringt sich der Dirigent kurze Zurücknahmen des Dauerfortes ab, zu dem er aber schleunigst wieder zurückkehrt. - Es bleibt die Frage, wer solch eine Aufnahme der h-moll-Messe braucht, die zwar im historisch informierten Kostüm daherkommt, die in der Musizierauffassung jedoch dem „objektiven“ Nähmaschinen-Barock der 1960er Jahre näher steht, als sie sich wohl selbst träumen lässt. Den versenkungsvollen, in reichster künstlerischer Fantasie dynamisch und phrasierungs-technisch ausgeloteten Interpretationen Karl Richters kann dieses marktkonforme „Produkt“ nicht das Wasser reichen!