Folk-Jazz mit Tiefgang
Erinnert sich noch jemand an die FELLOW TRAVELLERS? Jener Formation, die in den 90er Jahren so einzigartig Folk und Country mit Reggae verband? Deren Vordenker, Sänger und Gitarrist war JEB LOY NICHOLS. Nach dem Ende der Band verfolgte Nichols eine Solo-Karriere. Er blieb seinem Crossover-Konzept treu, hat auch Pop- und Soul-Einflüsse verarbeitet und sich einen Namen als Herausgeber der beiden jetzt gestrichenen COUNTRY GOT SOUL Zusammenstellungen gemacht. Darauf versammelte er Aufnahmen von weißen Musikern, die Country Music mit Southern Soul verbanden, wie EDDIE HINTON, BOBBIE GENTRY, JIM FORD oder TONY JOE WHITE.
STRANGE FAITH AND PRACTICE ist bereits das siebente Solo-Album von JEB LOY NICHOLS und seine zweite Veröffentlichung in 2009 nach PARISH BAR vom Januar. Man hört wieder seine charakteristische näselnde, beruhigende, warme Stimme und ortet ihn stilistisch zwischen dem Folk-Jazz eines TERRY CALLIER oder JOHN MARTYN, der Astral Weeks Phase von VAN MORRISON, dem smoothen Reggae eines BIM SHERMAN, den introvertierten Tönen eines DAVID SYLVIAN und den schwebenden Gebilden von MARK HOLLIS. Das Album wurde mit Londoner Jazz-Musikern und einem Streichquartett eingespielt, was auch prägend ist. Es gibt ihm einen seriösen, erwachsenen Anstrich, nimmt aber auch ein wenig die verführerische Leichtigkeit früherer Aufnahmen.
Das Album beginnt mit SOMETIME SOMEWHERE SOMEBODY, einem der schönsten Songs, die JEB LOY NICHOLS bisher geschrieben hat. Eine hinreißende Melodie wird von schwerelosen Vibraphon-Klängen, einer sehnsuchtsvollen gestopften Trompete und elegantem Besen-Schlagzeug begleitet. Und Nichols krönt dies durch seine seidenweiche Stimme, die sich um die Noten windet. Majestätisch. LAKE WHITFIELD erinnert in seiner Abgeklärtheit und seinem Aufbau an die ausgeklügelten, mit reichlich Hooklines ausgestatteten Kompositionen von DAVID MUNYON. Ein schöner runder Folk-Jazz-Titel. Mich würde es nicht wundern, wenn NORAH JONES das Lied THE DAY THAT NEVER CAME in ihr Repertoire übernehmen würde. Es klingt nämlich wie eine Auftragskomposition für sie. Die Ballade CAN`T STAY HERE wird durch ein fast 1minütiges Piano-Solo-Intro eingeleitet. Streicher unterstützen später dezent die melancholische Stimmung. Sie leiten auch THIS MORNING ein und aus. Hier fühlte ich mich an die Streicherarrangements von ROBERT KIRBY erinnert, die dieser für NICK DRAKE entworfen hat. Der Song spielt mit unterschiedlichen Tempi. Während die Drums einen relativ flotten Rhythmus vorgeben, wird das Tempo durch die Streicher und den Gesang wieder ausgebremst. Sehr raffiniert. Nahtlos geht es mit PROBABLY NEVER STOP weiter, einer weiteren schönen Ballade. Nach dem Streicherintermezzo INTERLUDE ONE kommt mit dem jazzigen STRANGE FAITH AND PRACTICE ein weiterer Höhepunkt des Albums. Hier wird eine luftige Melodie mit der Improvisierkunst des Jazz verbunden und zu einem Langzeit-Ohrwurm verschmolzen. Der Jazzeinfluss ist auch bei IF I CAN COME HOME TO YOU dominant. Das Saxophon-Solo stört hier jedoch den Fluss, statt die Intensität zu steigern. Das gilt auch für INTERLUDE TWO, dem zweiten Instrumental-Stück. CRUEL WINTER, eine weiteres ruhiges Stück, wirkt relativ eindimensional, da die triste Stimmung kaum variiert wird. HOME WASN`T BUILT IN A DAY hat eine wunderbare Melodieführung. Saxophon und Trompete wechseln sich bei den Solo-Einlagen ab. Mit über 5 Minuten ist es das längste Stück der CD, ohne aber in Langatmigkeit auszuufern. Den Abschluss bildet der simple Absacker NEXT TIME, ein Titel mit Kinderliedcharakter.
Insgesamt zeigt JEB LOY NICHOLS weiterhin, dass er ein außergewöhnlicher Songwriter mit Mut zur Veränderung und damit auch zum Risiko ist. Er scheut ausgetretene Pfade, traut sich an ungewöhnliche Sounds und Verbindungen. Und man hat das Gefühl, da ist noch mehr drin. Er ist talentiert genug, weiter zu reifen. Große Klasse, der Mann.