Überfällig
Wer das Oeuvre von César Franck überblickt, muß sich wundern, wie Interpreten noch auf den Gedanken kommen können, den Komponisten stilistisch aus seiner Zeit heraus zu vereinnahmen. Das in CD-Erstveröffentlichung vorliegende (später überarbeitete) Jugendoratorium “Ruth” gibt ein schlagendes Beispiel für die einzigartigen Wege eines aus den Bahnen seiner Zeit weit herausfallenden Ausdruckskünstlers und Außenseiters.
In dem 1845 überwiegend fertigen Stück mag, wer möchte, in einem Abschnitt “Aida” (1871), in einem weiteren “Aus der Neuen Welt” (1893) heraushören, aber das ist marginal. Bedeutender prägt sich ein gewisser Primitivismus ein, der im eröffnenden Chor gar dem „Schmalz“-Bedürfnis potentieller Zuhörer eine Offerte macht (was in späteren Werken Francks nicht mehr vorkommt), von da aus aber eine ohne Vorbild dastehende Werkarchitektur emporwachsen läßt.
Was man wahrscheinlich bei keinem anderen Komponisten sonst in s i n n l i c h n a c h h ö r b a r e r Form so erlebt, ist Francks Intention und Fähigkeit, das ganze Werk aus Eigenschaften einer Folge von vier Noten zu entwickeln. Die Ausgangsfigur besteht aus den vier Staccatovierteln b-g-b-g. In durchgängiger Anspielung bildet der kaum über 20jährige Meister Melodien und Motive, die in regelmäßigem Abstand jeweils einen Zentralton anpeilen. Dieser Abstand ist immer regelmäßig, um hörend erkennbar zu bleiben, variiert aber von Melodie zu Melodie, Motiv zu Motiv, Abschnitt zu Abschnitt. Auch die Füllung zwischen den Zentraltönen variiert nach Rhythmus und Stil.
Bildet b-g-b-g den embryonalen Zustand einer Doppelstrophe mit Couplet und Refrain, so gestaltet Franck den gesamten ersten Teil (40 Minuten), eingeschränkt auch noch den zweiten (20 Minuten) wie ein großes Rondo. Rezitativische, ariose und variiert strophischen Abschnitte dienen als Couplets, ein variiert wiederkehrendes, im zweiten Teil stärker abgewandeltes (und im dritten nur noch durchscheinendes) Chorthema als Refrain.
Das Werk ist in Einzelnummern gegliedert, in der Wirkung aber “durchkomponiert mit Zäsuren”. Auch diese Ambivalenz ist typisch für Franck über das frühe Werk hinaus und anscheinend ohne Vorbild. Diese Struktur erlaubte ihm, von der ersten Note an dicht, abwechslungsreich und einheitlich zu arbeiten, durchaus mit Reserven dennoch für den Schluß. Das Orchestervorspiel legt bereits voll los, und sieht man vom etwas tief stapelnden Eingangschor und kurzen Passagen in II und III ab, begegnen wir hier einem Werk, das die kathedrale Prägnanz der späteren Werke mehr als erahnen läßt.
Interpreten orientieren sich, wenn sie Franck aufführen oder über ihn schreiben, meistens an Vergleichsmaßstäben der Zeit. Sie nehmen dadurch nicht wahr, daß der Komponist bereits eine freie, n a c h h ö r b a r e Art von R e i h e n t e c h n i k praktiziert (über Themenverwandtschaften und Leitmotive bei Schumann, Liszt und Wagner weit hinaus, in der Wirkung weit entfernt davon). Mit einer Tonreihe organisiert er alle Stimmen. Das macht er bereits als 21-Jähriger. Eigentlich hätte die Neue Wiener Schule hier lernen sollen. Der Einfluß war aber durch andere Namen, Ideologien und wohl auch Chauvinismen überlagert.
Der Autor des ausführlichen und im übrigen sehr informativen Booklets (französisch / englisch) wiederholt einige der üblichen Einschätzungen über den Komponisten und verweist auf die „Homophonie der Chöre“ bzw. darauf, daß „bereits“ in diesem Frühwerk ein Bemühen erkennbar werde, über ein „kurzes Motiv“ die Einheitlichkeit zu steigern. In der Tat präsentiert die Chorpartie mit geringen Abweichungen eine Art akkordische Einstimmigkeit, aber der Chor bildet auch nur eine Stimme im Gesamten, und da ist das Zusammenspiel mit dem Orchester entscheidend.
Die Musiker des Live-Mitschnitts eröffnen mit ihrem frischen Nach-vorn-Bringen aller Einzelstrukturen toitoitoi andere Einblicke. Der Chor ist in die Hunderte besetzt und hörbar nicht professionell, die instzrumentale Seite dagegen in den Streichern unterbesetzt, was an den machtvollsten Höhepunkten kleine Lücken bedingt, macht in der kathedralen Akustik des Kirchenraums aber erstaunlich viel daher. Tempi und Übergänge stimmen, die Solopartien überzeugen.
Für die Franck-Rezeption ist das eine lange vermißte Bereicherung und ein Plädoyer für ein Werk, das auch außerhalb Frankreichs Publikum begeistern kann. Die Machbarkeit der Chorpartie auch für nichtprofessionelle Chöre sollte eine Aufnahme ins ständige Repertoire befördern, der Komponist – darin vielleicht schon Debussy vorausdenkend – meidet schwer zu erreichende Spitzentöne und alles, was an gesangstechnische Manierismen erinnert. Singbare Übersetzungen in die jeweiligen Landessprachen wären im Sinne des Komponisten.