Bruckner-Zyklus, der wirklich neue Eindrücke vermittelt
Auch wenn der vorliegende Zyklus nicht neu ist, führt er doch immer noch ein Schattendasein. Dabei bieten gerade diese Aufnahmen einen ganz besonderen Einblick in die Sinfonien Bruckners.
Mir ist schon seit längerem aufgefallen, dass sich in der Darstellung der Bruckner-Sinfonien ein ziemlich einheitliches Klangbild etabliert hat. Unabhängig von Tempovorstellungen scheinen sich alle Dirigenten darin einer Meinung zu sein, welche Stimmen bzw. Instrumentalgruppen betont bzw. in den Hintergrund gerückt werden.
Gerade die recht vielschichtigen und komplexen Partituren Bruckners sollten aber meiner Ansicht nach zum mutigen Experimentieren anregen und herausfordern. Es ist tragisch genug, dass aufgrund der Dichte dieser Werke ohnehin eine ganze Menge an Instrumentalstimmen in den meisten Bruckner-Aufnahmen "untergehen". Eine in dieser Hinsicht ideale Interpretation, die alle Stimmen gleichzeitig wirklich hörbar macht, gibt es natürlich nicht.
Hier aber ist nun das große Potential der vorliegenden Box: Skrowaczewski und dem RSO Saarbrücken gelingt es, bisher ungehörte Stimmen zu betonen und somit hörbar zu machen. Ich habe gelesen, dass sich über den "unausgewogenen" Klang dieser Aufnahmen etwas beklagt wurde. Vom "ziemlich dünnen Streicherklang" und den etwas "zu nah aufgenommenen Bläsern" war die Rede. Vielleicht ist es wirklich eine Unausgewogenheit in der Aufnahmetechnik, aber ich empfinde das klingende Resultat als sehr bereichernd. - Bruckners Musik sollte nicht nur auf einen klanglichen Mainstream reduziert werden, es sollte mit Lust und Experimentierfreude an die Entdeckung dieses Kosmos' herangegangen werden. Meine Bewunderung gilt daher den Schöpfern dieser Aufnahmen, die mutig neue klangliche Schritte gewagt haben.
Endlich werden einem wirklich neue Aspekte deutlich. Eines der prominentesten Beispiele für diese neuen Hörerlebnisse sind zweifellos die letzten Takte des Finales aus der 5. Sinfonie: was bisher nur in der Partitur sichtbar war, kann nun von jedem nachvollzogen werden. Kurz nach dem letztmaligen Erklingen des "Choralthemas" werden vor allem die Blechbläser stark in der Lautstärke zurückgenommen, wodurch eine eigenständige Flötenlinie zu Tage tritt. (Nur ansatzweise konnte man dies auch auf der Aufnahme des Leipziger Gewandhausorchesters unter Herbert Blomstedt hören.)
Nicht alle "Neuerungen" sind so spektakulär; häufig sind es nur wenige Töne, eine kurze Phrase oder ein einzelner Ton, der in anderen Aufnahmen so noch nicht zu hören war. Besonders reich an diesen neuen Facetten ist die Aufnahme der 3. Sinfonie - für mich ein Höhepunkt dieser Box.
Ich hatte mit dem Kauf dieser Aufnahmen gezögert, da ich schon viele, sehr viele Bruckner-Aufnahmen habe. In der letzten Zeit hatte ich den Eindruck, dass viele Neuerscheinungen auf dem Bruckner-Markt eher von Marketing und Presse "hochgeschrieben" werden als dass tatsächlich etwas neues zu hören sei. - Für diesen Zyklus gilt das nicht, hier wird wirklich bisher unerhörtes geboten.