Und schon wieder ein neuer Messias der Beethoven-Exegese ...
Man glaubt es kaum, aber es war wieder einmal Zeit (zum wievielten Mal in den letzten Jahren???), dass man Beethoven "völlig neu entdecken", "ganz anders" und/oder "entstauben" zu müssen vorgibt oder wie die Werbeslogans und Jubelkritiker es noch so nennen mögen. Verbunden wird das Ganze mit dem Hochloben eines neuen "Pultstars" zum neuen "Messias" mit quasireligiösem Gefasel in Richtung von "Offenbarungen" und Ähnlichem. Zumeist bleiben die Hörerfahrungen hinter den extrem hochgesteckten Erwartungen mehr oder weniger weit zurück.
Dies gilt auch für Currentzis cum grano salis.
Seine kürzlich erschienene Einspielung der 5. Symphonie zeichnete sich vor allem durch Hektik, Dauerpresto und viele Showeffekte aus (extremes Ausreizen der Lautstärken, knallige Akzente etc.).
In dieser Aufnahme konstatiert sich Ähnliches und sie weist wiederum grundsätzliche Probleme auf:
1. Wenn man versucht, mit Hilfe historischer oder entsprechend nachgebauter Instrumente eine historisierende Aufführung zu realisieren, dann ist es wohl meist passender mit kleiner Besetzung zu spielen. Zudem gelingt dann meist die Ausbalancierung der Instrumente besser und gerade die Holzbläser kommen besser zur Geltung. Entsprechend haben hier z. B. Gardiner, Harnoncourt, Savall oder von der Goltz exzellente Aufnahmen vorgelegt.
2. Man kann auch "historisch informiert" spielen, was durchaus interessante Einsichten erlaubt, letztlich aber weder Fisch noch Fleisch ist. Da greife man zu entsprechenden Aufnahmen Järvis oder Norringtons etc.
3. Oder man spiele "traditionell" mit großem, modernen Symphonieorchester mit allen akustischen Vor- und Nachteilen. Auch so sind sehr gute Einspielungen entstanden, man denke nur an den großartigen Kleiber, Chailly etc.
Currentzis will nun mit historischen Instrumenten in großem "Symphonieorchesterklang" spielen und wohl auf diese Weise die jeweiligen Vorteile einheimsen, erreicht meines Erachtens aber eher das Gegenteil: die spezifischen Stärken des historischen Aufführungsstils (feine Nuancierung, Ausgewogenheit der Orchesterstimmen etc.) gehen im doch relativ breiten Orchesterklang fast unter (z. B. die Holzbläser), es bleiben oberflächlich herausgestellte Einzelakzente, die dann (auch dank der Tontechniker) den Show-Effekt des "Unerhörten" hervorrufen (gelingt besonders gut im Heimkonzertsaal).
Verstärkt wird diese Effekthascherei durch Currentzis` Drang zum Ausloten von Extremen, sowohl bei den Tempi als auch bei der Dynamik. "Knalleffekte", wie sie ein Vorrezensent lobt, waren vor zweihundert Jahren ästhetisch wohl selbst für Beethoven unangebracht und entsprechen leider vor allem modernen Klanggewohnheiten und -erwartungen.
Der zweite Satz kann zwar Anklänge zu Schreittänzen haben, dennoch halte ich weiterhin die Anspielung auf eine liturgische Prozession mit dem Anklängen an das "Ora pro nobis" für sinnvoller, vor allem in Hinblick auf den 4. Satz mit dem Hinweis auf dem Gossecschen Triumphmarsch der Republik, wenn man den Napoleonbezug für zentral hält.
Currentzis realisiert zwar eine gewisse Penibilität bei der Partiturtreue, verfehlt aber durch Extremismus den wohl intendierten Klang- und Interpretationscharakter von 1810/1813 und liefert so ein letztlich überflüssiges "hat sich redlich bemüht" ab.
4. Ein letztes Ärgernis: Wiederum wird auf einer CD nur eine Symphonie eingespielt (wie bei der 5.), obwohl man beide Einspielungen zeitlich hätte kombinieren können. Entweder Geschäftemacherei oder Zeitdruck, um die Heilserwartung der Currentzis-Jünger zu befriedigen. Gerade die sinnvolle Kombination mit anderen Werken kann die Interpretation fördern!
Welche feine Nuancierung hier wirklich möglich ist, kann man eindrucksvoll bei Gottfried von der Goltz und den exzellenten Freiburger Barockorchester-Musikern erleben: In meinen Ohren die wirkliche Referenzaufnahme der historisierenden Aufführungspraxis!
Sie demonstriert musikalische Subtilität und ein Höchstmaß an Präzision und Spielfreude, sodass eine unglaubliche Lebendigkeit entsteht. So bekommt jeder Satz seinen individuellen Charakter und das Gesamtwerk seine Gesamtinterpretation - ohne Showeffekte. Außerdem bietet er noch mit der Ballettmusik aus "Die Geschöpfe des Prometheus" ein wohlüberlegtes und interessantes Beiprogramm. So gehört musiziert und publiziert!