„Ich bin nicht Romantiker und nicht Klassiker, aber ich meine, was ich sage.“ – Wilhelm Furtwängler
Wilhelm Furtwängler kennt man vor allem als einen bedeutenden Dirigenten des 20. Jahrhunderts. Als Komponist wird er kaum beachtet, obwohl er selbst im Komponieren seine eigentliche Berufung sah und manchmal bedauerte, dass das Dirigieren ihm wenig Zeit dafür lasse.
Nachdem er die Erste Sinfonie nach jahrzehntelanger Arbeit vorläufig beendet hatte, wollte er nach den dort gemachten Erfahrungen mit einem neuen Werk etwas konsequenteres und geschlosseneres schaffen als mit dem älteren. Das Ergebnis, die Zweite Sinfonie in e-moll entstand 1944 bis 1946 hauptsächlich in der Schweiz, wohin Furtwängler geflüchtet war.
Das Werk ist im Stil sehr konservativ, aber kein bisschen epigonenhaft und eher abseits der größeren Zeitströmungen stehend. Zwar stehen große Vorgänger wie Beethoven, Brahms und Bruckner dahinter, aber Furtwängler denkt konsequent und sehr eigenwillig weiter: „Ich bin nicht Romantiker und nicht Klassiker, aber ich meine, was ich sage.“ So äußerte er sich gegen Ende seines Lebens, und in der Tat: Mit der Spätromantik verbindet das Werk die weitläufige Form und tragische Grundstimmung, der konzentrierte Ablauf und eine gewisse Nüchternheit geben dem Werk einen sehr klassischen Zug, aber Furtwängler lässt sich auf keine Richtung so einfach festlegen.
Die Sätze folgen frei den traditionellen Formen. Aus einfachen Motiven entwickelt Furtwängler durch eine außergewöhnlich dichte und ausführliche, regelrecht verbissene Verarbeitungstechnik riesige Spannungsbögen, die zu mächtigen Eruptionen führen. Die Orchestrierung ist kraftvoll und weniger auf Klangfarbe als auf Strukturbetonung angelegt. Überhaupt ist diese Musik trotz der angewendeten starken Mittel wenig auf den äußeren Effekt hin geschrieben, aber fein ausgearbeitet in allen Details. Die Tempi sind hauptsächlich gemäßigt bis mittelschnell, der Charakter der Musik über weite Strecken melancholisch, aber unruhig, herb, vorwärtsdrängend und mit einem gewissen Pathos.
Diese Eigenschaften in Verbindung mit gut 80 Minuten Spieldauer bei vier Sätzen ergibt ein Werk von epischen Dimensionen; nicht einfach zu hören, aber es gibt sehr viel darin zu entdecken. Furtwänglers Zweite Sinfonie stellt einen interessanten Beitrag zur Sinfonik des Zwanzigsten Jahrhunderts dar, traditionsbewusst, aber eigenständig und mit vielen Ecken und Kanten, die zeigen, dass auch in der konservativen Richtung noch nicht alles gesagt war.
Es gibt nicht viele Aufnahmen von Furtwängers Musik, was in Anbetracht des Gesagten nicht sehr verwunderlich ist. Glücklicherweise hat Daniel Barenboim mit dem Chicago Symphony Orchestra eine sehr gelungene Aufnahme vorgelegt, die für das Werk deutlich schmeichelhafter ist als die von Alfred Walter und dem BBC-Orchester und alle genannten Aspekte gut zur Geltung bringt. Barenboim hatte Furtwängler als Kind in dessen letztem Lebensjahr noch kennen gelernt, und dieser war von ihm begeistert. Für Barenboim dürfte die Aufnahme also auch eine persönliche Komponente gehabt haben.