Mahler-Interpretationen um 1950: Solides - Überraschendes - Kurioses
Auch wenn die Documents-Box mit historischen Aufnahmen sicherlich nicht für den Einstieg in den Mahler-Kosmos geeignet ist, so liefert sie dennoch eine weitgehend interessante interpretationsgeschichtliche Ergänzung zu den später eingespielten kompletten Mahler-Zyklen von Georg Solti (Chicago Symphony Orchestra, Decca), Leonard Bernstein (der frühe Mahler-Zyklus bei CBS/Sony), Rafael Kubelik (Symphonie-Orchester des BR, DGG) sowie den neueren bahnbrechenden Einzelaufnahmen von Benjamin Zander (Telarc, herausragend insb. die Sechste). Die Auswahl der Aufnahmen bietet Solides neben Überraschendem und Kuriosem. Dass sie hinsichtlich der zahlreichen auf dem Markt schon erhältlichen historischen Mahler-Einspielungen dennoch einige Lücken schliesst, ist aber wohl bis zu einem gewissen Grade dem Zufall zu verdanken; durchgreifendes Kriterium der Selektion war wohl nicht zuletzt, dass alle 9 Symphonien (+ Adagio aus der Zehnten) und das Lied von der Erde auf 10 CDs passen sollten, was nur in unumgänglichen Ausnahmefällen (für die Dritte etwa lässt sich dies nicht verhindern) Interpretationen zulässt, die für eine der Symphonien mehr als eine CD benötigen; dies schränkt die Auswahl, wenn man ausschliesslich aus dem Fundus urheberrechtsfreier historischer Einspielungen schöpft, in einigen Fällen sicherlich schon erheblich ein. Begleiteffekt: Die Unterschiede in der Tonqualität der Aufnahmen sind wesentlich grösser als es das Spektrum der Aufnahmedaten (1947-57) suggerieren könnte. Aufgrund ihrer interpretatorischen wie klanglichen Uneinheitlichkeit lässt sich eine minimale Kommentierung der einzelnen Aufnahmen nicht umgehen:
Das absolute interpretatorische Highlight der Zusammenstellung ist die Sechste mit den New Yorker Philharmonikern unter Dimitri Mitropoulos (1955, live). Die Aufnahme klingt, obgleich klanglich nur mittelprächtig, erstaunlich frisch und ist deutlich konturiert; sie bietet geradezu die Suggestion eines unverfälschten interpretatorischen Rohzustandes der Sechsten, vor jeder Differenzierung, Sublimierung oder auch Abschwächung, wie sie die nachfolgende Interpretationsgeschichte dann nicht zuletzt auch hervorgebracht hat. Sie ist daher vielleicht auch ein wenig gewöhnungsbedürftig.
Auch die Siebte (1957, live) und die Neunte (1954, live) mit dem Symphonie-Orchester des Südwestfunks unter Hans Rosbaud gehören zu den Einspielungen, die diese Mahler-Box hochinteressant machen. Es handelt sich um sehr überzeugende Interpretationen, an die man ansonsten nicht so leicht herankommt. Zudem konnte die hier vorliegende Einspielung der Siebten mein Bild von Rosbaud als Qualitätsgaranten wieder herstellen, nachdem es zuvor Schaden genommen hatte, ausgelöst durch seine katastrophale Einspielung eben dieser Siebten mit dem RSO Berlin (1953, Archipel Records).
Die Erste mit den Wiener Philharmonikern unter Rafael Kubelik (1954) ist für eine alte Mono-Aufnahme klanglich sehr gut (aufbereitet); die Interpretation lässt nichts zu wünschen übrig und bietet eine ideale Ergänzung zu den schon erwähnten späteren Kubelik-Einspielungen aller Mahler-Symphonien und, so dies noch nötig war, erneut eine Bestätigung, dass Kubelik einer der idealen Mahler-Interpreten war.
Die Zweite mit dem Concertgebouw-Orchester Amsterdam unter Otto Klemperer (1951, live, tontechnisch sehr gut aufbereitet) ist zweifelsohne ein Meilenstein in der Interpretationsgeschichte dieser Symphonie - und gleichzeitig das Gegenteil einer überraschenden Auswahl: die Aufnahme ist vielmehr auf dem Markt schon in diversen Kompilationen vertreten und kann daher wohl als inzwischen wohlbekannt gelten.
Die Dritte mit dem BBC Symphony Orchestra unter Adrian Boult (1947, live) lässt sich hinsichtlich ihrer Stellung in der Interpretationsgeschichte dieser Symphonie als das direkte Gegenteil zur Zweiten unter Klemperer ansehen. Es handelt sich, auch wenn hier Kathleen Ferrier als Solistin firmiert, um eine ziemlich abwegige, verquere, wenn nicht gar katastrophale Interpretation, die immerhin deutlich macht, dass es auch so etwas jenseits der bekannten Tradierungslinien der Mahler-Interpretation gegeben hat. Hinzu kommt eine sehr moderate Tonqualität (wiederum im Vergleich etwa mit der Zweiten unter Klemperer oder den aufgearbeiteten historischen Aufnahmen, wie man sie gemeinhin von Dutton oder Naxos Historical kennt). Fazit: nicht einmal ein interessantes Kuriosum. (Zur Ehrenrettung von Boult höre man sich seine beiden exquisiten Vaughan-Williams-Zyklen an.)
Die Vierte mit dem Chicago Symphony Orchestra unter Fritz Reiner (1958, Solo: Lisa Della Casa), pflichtgetreu, ohne sonderlichen Enthusiasmus ins Abspielgerät gelegt, führte dann zu einer ganz persönlichen Überraschung: Erstmals konnte ich mit der Vierten, die mir nie so ganz in den Mahler-Kosmos zu passen schien (wohlwissend, dass es da andere Einschätzungen gibt), überhaupt etwas anfangen.
Die Fünfte mit dem New Yorker Philharmonikern unter Bruno Walter (1947) - eine weitere hinlänglich bekannte Aufnahme - brachte hingegen keine Überraschung. Ähnliches lässt sich in Bezug auf das Lied von der Erde mit Kathleen Ferrier, Julius Patzak und den Wiener Philharmonikern unter Walter (1952) vermelden. Spätestens, wenn man sich an die grandiose Aufnahme (extreme Aussenseitereinschätzung!) mit Dietrich Fischer-Dieskau, James King und den Wiener Philharmonikern unter Leonard Bernstein (1966, Decca) gewöhnt hat, erscheint die hier vorliegende Einspielung ziemlich blass. Man hat das Gefühl, dass hier erst gar nichts so weit in Fahrt kommt, um tatsächlich den "Abschied" zu ermöglichen.
Die Achte mit dem New York Philharmonic Symphony Orchestra, diversen Chören und Solisten unter Leopold Stokowski (1950, live), immerhin klanglich für ihr Alter gut restauriert, lässt sich bestenfalls als Kuriosum ansehen; es handelt sich um eine der schnellsten Einspielungen der Achten (vielleicht sogar die schnellste überhaupt). Interpretatorisch ist die Aufnahme aber nicht wirklich überzeugend.
Das Adagio aus der Zehnten mit dem Orchester der Wiener Staatsoper unter Herrmann Scherchen (1952), so gelungen die Interpretation auch sein mag, ist vor dem Hintergrund der Cookeschen vervollständigten "Performing Version" bestenfalls noch von historischem Interesse, wie alle Einspielungen, die die Zehnte auf das Adagio beschränken. (Leider ist die vielleicht interessanteste Interpretation der Cookeschen Vervollständigung der Zehnten nicht mehr erhältlich: Simon Rattles frühe Einspielung aus dem Jahre 1980 der von ihm selbst leicht modifizierten zweiten Cooke-Fassung mit dem Bournemouth Symphony Orchestra wurde von der EMI nach Veröffentlichung der späteren, leider übersublimiert-blassen Rattle-Einspielung mit den Berliner Philharmonikern vom Markt genommen.)