Ferne Welt - und doch wahrhaftig
Noch ein großer Wilhelm - 15 Jahre vor Furtwängler geboren und Weggefährte und glühender Verfechter von Gustav Mahler: WILHELM MENGELBERG. Es gibt ein Filmdokument (Oberon-Ouvertüre, Adagietto aus L´Arlésienne, Ungarischer Marsch von Berlioz - einer der ersten Versuche von Konzertfilm von 1931) mit Mengelberg als Dirigenten. Beim Ansehen wird klar, wie weit diese Welt entfernt ist von all dem, wie wir heute Musik aufführen und was unser Musikverständnis und vielleicht auch erleben angeht. Das als Vorwort zur Einstimmung, weil alles, was hier in dieser Zusammenstellung zu hören ist, mit nichts vergleichbar ist und man diesen bewussten oder unbewussten Versuch nicht unternehmen sollte …
CD1-3: Mengelbergs Musizieren ist ganz singulär und oft von ganz starker Gestalt. Wenn Sie die Einleitung und „kommt ihr Töchter, helft mir klagen“ der Matthäus-Passion hören, dann eröffnet sich eine Welt und ein Gefühlsleben, das jeden betrifft und zeitlos ist. Dabei sind Fragen wie Besetzungsgröße, Tempi oder Spielart völlig nebensächlich.
CD4: Bartoks Violinkonert Nr. 2 klingt in der 2001 von Q-Disc veröffentlichten 10CD+1DVD-Box „Mengelberg - Live - The Radio Recordings“ etwas dumpfer aber dafür deutlich störungsfreier als in der in den Höhen deutlich angehobenen Decca-Ausgabe. Da fällt die Wahl für eine Präferenz nicht leicht - -mir persönlich sagt die alte Ausgabe mehr zu, denn a) ist die Aufnahme nicht allzu Präsent und die Oberflächengeräusche stören da besonders und b) steckt in den Höhen auch nicht allzu viel drin, was das Klangbild bei Decca etwas unangenehm scharf macht.
Der Geiger Zoltán Székely ist souverän und die ganze Aufführung sehr intensiv.
CD 5 bis 10: Die Gesamtaufnahme der Beethoven-Sinfonien. Ich muss gestehen, dass mit persönlich vieles bei diesen Aufnahmen nicht so nah geht. Das hängt vielleicht teilweise mit dem manchmal mäßigen Klang zusammen und der Überfülle an Einspielungen, die ich von Beethovens Sinfonien kenne. Somit beschränke ich mich hier auf wenige Worte zum Klang der (bis laut Angaben auf die 4te und 5te) Live-Mitschnitte:
CD5: Die 1te ist gut, wenn auch mit für mein Empfinden etwas gewollten Verbreiterung zum Seitentema hin. Überzeugend, mit wie viel dynamischen Abstufungen die kleine Tonleitereinleitung zum letzten Satz vertieft wird.
Wie die 1te ist auch die 2te Beethoven vital und klar gespielt und zudem klanglich sehr gut gelungen.
CD6: Die 3te ist vom Klang entfernter, bassbetonter und nicht so präsent, aber da kann man sich gut einhören. Dennoch fällt es mir (vielleicht eben dadurch?) dadurch schwer, für die Aufführung Feuer zu fangen.
CD7: Die 4te klingt in der Einleitung wie viele alten Aufnahmen matt, gewinnt dann aber. Die 5te klingt anders, aber gut und ist eine sehr klare zupackende Interpretation.
CD8: Die 6te klingt sehr gut, Mengelberg zeigt eine sehr sprühende Lesart – da ist nicht betulich oder weihevoll.
CD9: Die 7te ist klanglich im Mittelfeld angesiedelt und 8te sind etwas enger im Klangbild, aber OK
CD10: Die 9te fordert zum Vergleich mit der 10CD+1DVD-Box „Mengelberg - Live - The Radio Recordings“ heraus. Was auffällt ist, das die angegeben Zeiten schon variieren – und zwar in beide Richtungen. seltsam… Vom Klang her würde ich die Decca bevorzugen – aber das ist alles eine Sache des Einhörens. Beide Transfers haben ihre Meriten und Schwächen.
CD11: „Ein Deutsches Requiem“ von Brahms erfährt hier eine sehr freie, aber auch intensive Darstellung. Sehr gute Solisten und Chorleistung, gute Wortverständlichkeit. Guter Klang der Aufnahme.
CD12-15 klingen alle sehr gut!
CD12: Die Brahms 1te birst schier vor Aufgeladenheit, was aber voll und ganz authentisch rüberkommt. Auch die großen Portamenti klingen nicht aufgesetzt. Eine äußerst eindringliche Darstellung, ein Drama in vier Sätzen. Brahms hier ganz und gar unklassisch als reiner Ausdrucksmusiker. Irgendwie kam mir spontan der Schmerz der entsagten Liebe zu Clara Schumann in den Sinn… Schuberts drei Sätze aus „Rosamunde“ sind sehr vielschichtig ausgearbeitet. Die große Kunst des Portamentos im Entr´acte … Sowohl der Brahms als auch der Schubert zählen zu den am besten klingendsten Aufnahmen in dieser Kollektion.
CD13: Francks d-moll Sinfonie – auch hier kann Mengelberg nicht anders als dramatisch, was dem ersten Satz etwas von seiner sehnsüchtigen Verzehrtheit nimmt. Strauss´ „Don Juan“ klingt minimal unklarer als die d-moll Sinfonie.
CD14: Die Mahler 4te ist trotz ihrer Extravaganzen (oder gerade deshalb?) ganz und gar überzeugend und voller Raffinesse. Das Concertgebouw Orchester war schon damals ein exzellentes Orchester, und in dieser Qualität nur von ganz wenigen Europäischen Orchestern erreicht. Die Überspielung der schon angesprochenen 10CD+1DVD-Box „Mengelberg - Live - The Radio Recordings“ ist in diesem Fall für meine Ohren eindeutig besser, wobei auch die Decca hier gut zu hören ist.
CD15: Schuberts 8te h-moll in einer mit etwas zu direkten - und die 9te C-Dur in einer sehr guten, männlich unverzärtelten Interpretation.
Fazit: Wegen CD12-15 unbedingt empfehlenswert, sehr anregend und Nachdenkens wert CD1-4 und CD11 (die zwei großen Chorwerke) – der Beethoven wäre für mich kein MUSS …