Sehr empfehlenswertes Leseerlebnis.
Im Arizona des frühen zwanzigsten Jahrhunderts mußte schon die ganz junge Lily Casey Smith viel Pragmatismus beweisen, um sich und ihre Familie am Leben zu halten. Der Vater, durch einen Unfall (ein Pferd traf ihn am Kopf, als er noch ganz klein war) stark gehandicapt, züchtete und verkaufte mäßig erfolgreich Kutschpferde, war ansonsten allerdings eher ein Träumer und sehr konservativ eingestellt, auch was den beruflichen Werdegang seiner Töchter anging. Die Mutter weigerte sich aus Überzeugung, körperlich zu arbeiten und sah sich und ihre Töchter irrwitzigerweise im so genannten Wilden Westen dennoch lieber als feine Ladys, fand ebenfalls nur für den einzigen Sohn Buster überhaupt eine Schulbildung als sinnvoll und die Ambitionen ihrer Tochter, die sich schnell als aufgewecktes, neugieriges und äußerst zupackendes Mädchen erwies, einfach suspekt.
Schon sehr früh wurde Lily bewußt, dass alles, was Menschen mühevoll aufgebaut hatten, durch die Widrigkeiten der Naturgewalten wie Tornados, Dürre oder Überschwemmungen schlagartig zunichte gemacht werden konnten und sie lernte schnell, dem Verlorenen nicht hinterher zu weinen, sondern immer wieder neu zu beginnen. Ob ihr Zuhause nun, wie zu Beginn des Romans lediglich aus einer Erdhöhle bestand oder sie mit ihrem zweiten Mann eine riesige Rinder-Ranch als Verwalter betrieb, immer fügte Lily sich genügsam in die Gegebenheiten ein, war allerdings jeder Neuerung, wie dem Telefon, Autos, Innen-WC und fließend Wasser in der Wohnung, und jedem Fortschritt gegenüber offen, aufnahmebereit und aufgeschlossen, aber ganz gewiß nicht unkritisch.
Eine ihrer Berufungen lag ganz sicher im Unterrichten junger Menschen, die sie zwar - wie eben damals noch üblich - streng behandelte, bei denen sie sich aber gleichzeitig zutiefst verpflichtet fühlte, ihnen mitzuhelfen, frei heraus zu finden, wo ihre Stärken lagen. Nichts brachte sie mehr auf als sinnlose Beschränkungen und einengende Zwänge. Geprägt von dem Spruch, den sie selbst in einer Klosterschule, die sie als ganz junges Mädchen eine zeitlang besuchen durfte, von einer engagierten Oberin verinnerlichte: "Wenn Gott ein Fenster schließt, öffnet er eine Tür." fand sie nicht nur für sich nach herben Rückschlägen in ihrem Werdegang immer wieder den Mut, etwas Neues anzufangen, sondern gab diese Einstellung auch an ihre Kinder und die Kinder weiter, die sie unterrichtete und stellte sich mutig ihren Widersachern entgegen...zur Not unterstrich sie ihr Recht auf die eigene freie Meinungsäußerung auch mal mit dem Colt - zum Beispiel gegenüber dem Patriarchen einer Mormonensiedlung - und ließ sich nicht einschüchtern.
Weder durch den tödlichen Unfall ihrer besten Freundin, die durch ihre langen Haare in eine Maschine gezogen wurde, noch durch den Selbstmord ihrer eigenen Schwester, die von der Mutter beeinflußt durch ihre Schönheit in Hollywood nach Erfolg suchte und auf den erstbesten Süßholzraspler hereinfiel, noch die Entdeckung, dass sie selbst mit einem Bigamisten verheiratet war, brachte Lily wirklich von ihrem Weg ab, aus eigener Kraft Qualifikationen anzustreben und stets ein Ziel vor Augen zu haben, sei es ihren irgendwann unanfechtbaren Lehrerinnen-Status, eine eigene Ranch oder den Flugschein.
Kurzum: diese Frau war ungeheuer zäh, flexibel, genügsam und unglaublich beeindruckend in ihrem ganzen Wesen und ihre Enkelin hat mit "Ein ungezähmtes Leben" einen wundervollen Roman über sie geschrieben, den man nicht mehr aus der Hand legen kann, bevor man ihn durchgelesen hat.
Ein paar Fotos, die einigen Kapiteln vorangestellt sind, untermalen Phasen in Lilys Leben perfekt und runden den Roman harmonisch ab.