Johann Sebastian Bach: Kantaten BWV 217-222 (Apokryphe Werke 1)
Kantaten BWV 217-222 (Apokryphe Werke 1)
Johanna Koslowsky, Harry Geraerts, Philip Langshaw, Kai Wessel, Alsfelder Vokalensemble, Steintor Barock Bremen, Wolfgang Helbich
2
CDs
CD (Compact Disc)
Herkömmliche CD, die mit allen CD-Playern und Computerlaufwerken, aber auch mit den meisten SACD- oder Multiplayern abspielbar ist.
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- (ursprünglich J. S.Bach zugeschrieben. Zwei Werke von Telemann, eines von Johann Ernst Bach. Die Komponisten der weiteren drei Kompositionen sind nicht bekannt).
- Künstler: Johanna Koslowsky, Harry Geraerts, Philip Langshaw, Kai Wessel, Alsfelder Vokalensemble, Steintor Barock Bremen (auf Originalinstrumenten), Wolfgang Helbich
- Label: CPO, DDD, 91
- Erscheinungstermin: 23.3.1999
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Jeder Versuch, sich heute der protestantischen
Kirchenmusik des 1 8. Jahrhunderts
zu nähern, ist durch die Erfahrung bzw. die
Kenntnis der Kunst Johann Sebastian
Bachs bestimmt, ja sogar belastet. Sein
Werk erscheint einzigartig und die Musik
der Zeitgenossen daneben seltsam blass.
Dabei waren es einzelne von ihnen, unter
anderem Georg Philipp Telemann (1681-
1767) in Frankfurt a. M., später in Hamburg,
und Christoph Graupner (1633-1760)
in Darmstadt, die den Standard des kirchenmusikalischen
Komponierens zu ihrer
Zeit angaben, während Bach außerhalb
Leipzigs nur als Meister der Tasteninstrumente
und des mehrstimmigen Satzes galt.
Bachs Vokalmusik (und d. h.: seine Kirchenmusik)
erfuhr sogar Kritik: Johann
Adolf Scheibe, maßgeblicher Vertreter der
auf klärerischen Ästhetik der Natürlichkeit,
Deutlichkeit und Sangbarkeit, monierte im
6. Stück des "Critischen Musicus" (1737),
dass Bach "seinen Stücken durch ein
schwülstiges und verworrenes Wesen das
Natürliche" entziehe, und "ihre Schönheit
durch allzu große Kunst" verdunkele.
Scheibe zielte mit seiner Rüge auf den
Primat des Musikalischen vor dem Text im
Vokalwerk des Thomaskantors. Er kritisierte
nicht nur den mangelnden Respekt vor
der Textstruktur bei der Vertonung, die
häufigen Dehnungen und Wiederholungen,
sondern auch ihre Verunklarung durch den
komplexen, polyphon "überladenen" musikalischen
Satz. Der Überschuss an Kunstfertigkeit
in der Musik Bachs war aber genau
das Moment, welches das andauernde
Interesse an ihr begründete. Und so wenig
Bachs Art, Vokalmusik zu komponieren.
den Ansprüchen seiner eigenen Zeit entsprach,
um so mehr begann sie sich im 19.
Jahrhundert zunehmender Wertschätzung
zu erfreuen, während seine ungleich berühmteren
Zeitgenossen vergessen wurden.
lhnen historische Gerechtigkeit wider
fahren zu lassen. ist ein legitimes. ja wünschenswertes
Anliegen. Denn Bachs Werk
entstand wie das der Zeitgenossen nicht
nur vor demselben Hintergrund frömmigkeits-
und sozialgeschichtlicher Bedingungen,
sondern teilte mit ihnen auch denselben
Vorrat an musikalischen Gattungen
und Kompositionstechniken. Erst ein möglichst
breit ausgeführter Vergleich kann hier
den individuellen Umgang Bachs mit den
vorgegebenen Rahmenbedingungen und
Möglichkeiten im einzelnen aufzeigen. Darüber
hinaus verweist die Erkenntnis, dass
Bach eine Sonderstellung in seiner Zeit
einnimmt, zurück auf die eigentlichen Repräsentanten
der Musik der 1 . Hälfte des
18. Jahrhunderts. Es ist nicht auszuschließen,
dass in ihren gelungenen Werken - erklingen
sie erst einmal - eine ihnen eigentümliche
Schönheit zum Vorschein kommt,
die bei Bach durch das hohe Maß an
Kunstfertigkeit verstellt ist. Die Sensibilisierung
dafür könnte bewirken, dass die
Kirchenmusik von Telemann, Graupner
unter anderem auch über ein rein historisches
Interesse hinaus Beachtung um ihrer
selbst willen findet.
"So siehet eine Cantata nicht anders aus, als ein Stück aus einer Opera, von Stylo Recitativo und Arien zusammengesetzt", charakterisierte Erdmann Neumeister (1671-1756), Hofprediger in Weißenfels und ab 1715 Hamburger Hauptpastor, den von ihm geschaffenen modernen Typus der Kirchenkantate. Dieser Typus verdrängte ab ca. 1700 die ältere Kantate in ihrer Stellung nicht nur als der wichtigsten Gattung der evangelischen Kirchenmusik, sondern auch als einer der zentralen Gattungen der Kunstmusik nach der Oper- Hatte der ältere Typus vom Text her auf Bibelwort und Kirchenlied und musikalisch auf der kleingliedrigen Reihung einzelner, kontrastierender Teile gefußt (man denke etwa an den "Actus tragicus" BWV 106), so führte der neumeistersche Typus mit der madrigalischen Dichtung, die große Freiheiten bzgl. Strophen- und Zeilenlänge, des Metrums und der Reimbindung zuließ, den kunstvoll geschmückten Stil sowie die aus der Oper stammenden musikalischen Formen Rezitativ und (Dacapo-) Arie in die Kantate ein. Indem Neumeister schließlich ab 1711 in seine Kantatendichtungen Kirchenlied und Bibelwort wieder einbezog, vereinigten sie literarische Modernität, Traditionsbezug und formale Vielfalt. Sie ermöglichten den Komponisten die Anwendung einer breiten Palette gestalterischer Möglichkeiten: Nicht nur Rezitative und Arien, sondern auch motettische und konzertante Chöre, schlichte Choräle und instrumentale Sätze ließen sich in sie einbringen. Die Übernahme weltlicher Formen ging gleichwohl - wenigstens bei Neumeister - nicht mit einer Dramatisierung der Kantate einher. Als auf die Predigt (als dem Höhepunkt des protestantischen Gottesdienstes) bezogene Gottesdienstmusik war die Kantate auslegende Perikopendichtung in lutherisch-orthodoxer Predigttradilion.
Die evangelische Kirchenkantate (meist als "Kirchen-Stück" im Unterschied zur "Cantata", der italienischen Solokantate, bezeichnet) genoss bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts ein ungeschmälertes Ansehen. Dies zeigte sich erstens an der umfangreichen Produktion" Hier nehmen sich die ca. 200 erhaltenen Werke Bachs bescheiden aus im Vergleich zu den über 900 nachgewiesenen Kanteten des seit 1 719 in Gotha wirkenden Kapellmeisters Gottfried Heinrich Stölzel oder zu den jeweils über 1400 Kantaten Graupners und Telemanns. Zweitens war die Kantate nicht bloß eine musikalische Gattung, sondern gleichermaßen eine poetische. Wenn auch die Masse der Texte von wenig bekannten Theologen oder Philologen - teilweise in Absprache mit den Komponisten - erstellt wurde, so beteiligten sich doch namhafte Dichter wie z. B. Christian Friedrich Hunold, vereinzelt sogar Johann Christoph Gottsched, mit normsetzenden Beiträgen an ihr. Drittens diente die Kirchenkantate als wichtiges Demonstrationsobjekt der Musiktheorie. Einerseits gab sie die Beispiele für die Kontrapunkt- und Generalbasslehre sowie für die Theorie des Rezitativs her, andererseits wurde gerade die Vielfalt ihrer Formen und Verfahren zum Auslöser für eine Gattungsdiskussion. Viertens schließlich lösten Neumeisters Neuerungen eine öffentliche Kontroverse über das Wesen der Kirchenmusik aus, die an ältere theologische Polemiken für und gegen die Figuralmusik anknüpfte und gerade dabei von der ungebrochenen Aktualität und dem allgemeinen Interesse an der geistlichen Musik und ihren Gattungen zeugte. lmmerhin erreichte die Kantate in einer Zeit, die das öffentliche Konzert noch nicht kannte, wie keine andere Musik breite Hörerschichten. Sie erklang auch in Orten, wo es weder Opern- noch Kammermusikaufführungen gab.
Der Sachverhalt, dass verschiedene Kantaten (wie auch diverse andere Werke) anderer Komponisten als Werke Johann Sebastian Bachs bezeichnet worden sind, hängt mit der Überlieferungssituation des Bachschen OEuvres zusammen. Große Teile liegen nämlich nur in Abschriften von z. T. mangelhafter Qualität vor. lhre Beschaffenheit erlaubt oft keinen sicheren Beweis für die Autorschaft Bachs. Erschwerend kommt hinzu, dass Abschriften fremder Kompositionen von der Hand Bachs überliefert sind, so dass also die Existenz eines Autographs alleine noch keine Eindeutigkeit schafft. (Anders sieht es jedoch aus, wenn Bach sich selbst als Verfasser bezeichnet oder seine Handschrift Konzeptcharakter hat, so dass eine fremde Vorlage ausgeschlossen werden kann.) Diese Umstände führten dazu, dass die 6 vorliegenden Kantaten - wenn auch mit einigen Fragezeichen - in das 1950 veröffentlichte Bach-Werke-Verzeichnis von Wolfgang Schmieder unter den Nummern 217-22 aufgenommen wurden. Vier von ihnen (BWV 21 7-20) waren 1894 im 41 . Band der Bach-Gesamtausgabe, der unvollständige und unsichere Werke vereinigte, im Druck erschienen. Die neuere Forschung erbrachte dann allerdings starke bis unzweifelhafte Argumente für die Nicht-Authentizität aller 6 Kantaten. Sie rückten deshalb in der überarbeiteten Ausgabe des Bach- Werke-Verzeichnisses von 1990 in die Anhänge ll (= zweifelhafte, J. S. Bach nicht zuzuschreibende Werke mit unbestimmter Autorschaft) und lll (= Bach fälschlich zugeschriebene Werke, deren Verfasser festgestellt sind). Die Tatsache, dass sich Telemann als der Komponist von zweien dieser Werke herausstellte, ist insofern bemerkenswert, als Telemann darüber hinaus mit 3 weiteren Kantaten sowie einem Kantatensatz im Bach-Werke-Verzeichnis vertreten ist. Darin dokumentiert sich das Interesse Bachs an seinem Kollegen, dessen Kantaten er sich möglicherweise aus Eisenach besorgte, um sie in Leipzig (am Anfang der dreißiger Jahre?) aufzuführen.
Der unbekannte Textdichter der Kantate "Gedenke, Herr, wie es uns gehet" (BWV 217 / Anhang ll 23 ) knüpft in seiner Dichtung an das Motiv des verschwundenen Jesus aus dem Evangelium (Luk. 2, 41-52: Der zwölfjährige Jesus im Tempel) an. Er gibt ihm einen Gegenwartsbezug: Nicht mehr die Eltern haben ihren Sohn, sondern der Sünder hat seinen Erlöser verloren. Nur Buße und Glaube führen wieder zu ihm hin.
Der einleitende Chorsatz (Klgl. 5, 1 u. 15), der auf eindringliche Deklamation und Affektausdruck zielt, ist durch eine Art Klangband der Violinen und der Viola geprägt, in das die homophon-blockartig gefügten chorischen Abschnitte eingefügt sind. Beide Schichten im Satz wechseln sich ab, ergänzen einander und interpretieren sich gegenseitig: Markiert die Seufzermotivik der Streicher den klagenden Grundaffekt des Satzes, so spricht der Chor von der sündigen Grundstruktur des Menschen. Die Arie mit ihrer homophonen Satzstruktur und der Konzentration auf die Melodie stellt eine typische Dacapo-Arie im neuen Stil nach 1720 dar- Bemerkenswert an ihrem Mittelteil sind die Indienstnahme der Gesangsvirtuosität für den Textausdruck und die deutliche motivische Beziehung zu den Außenteilen. Der Schlusschor bleibt seltsam zwiespältig: lm hoffnungsvoll-freudigen Dreiertakt gehalten, verbleibt er doch in d-moll.
Die Kantate "Gott der Hoffnung erfülle euch" (BWV 218 / Anhang lll 157 bzw. TVWV 1: 634) ist zuverlässig als Komposition Telemanns überliefert. Sie entstand 1717 als Teil eines Kantaten-Jahrgangs für den Eisenacher Hof, dem bis zum 1. Pfingsttag ausschließlich Dichtungen Erdmann Neumeisters zugrunde lagen. Aufführungen in Frankfurt a. M. bzw. Eisenach sind für 1717, 1720 und 1731 belegt. In seiner Hamburger Zeit griff Telemann auf einzelne Sätze daraus zurück.
Der Eingangschor ist als Concerto mit 2 obligaten Hörnern (und damit für den Pfingsttag nicht übermäßig festlich) und figurierenden Violinen komponiert. Der Chorsatz (Röm. 15, 13) besteht auch hier überwiegend aus homophon-deklamierenden Blöcken, die allerdings anfänglich noch polyphon aufgelockert sind. Die folgende dreiteilige Arie zeichnet sich sodann durch ihre grundsätzliche Zweistimmigkeit (Streicherunisono und Singstimme) aus. Ganz anders dann die zweite Arie: Sie ist konzertant als Wechselspiel zwischen den Hörnern, Violinen und dem Solosopran gestaltet. Das dazwischen stehende Rezitativ enthält einige schöne Beispiele für bildhafte Klangrede, so z. B. bei den Worten "Kämpfen", "heldenhaft" und "Lebenslauf".
Auch die Kantate "Siehe, es hat überwunden der Löwe" (BWV 219 / Anhang lll 157 + bzw. TVWV 1: 1328) ist eine Komposition Telemanns, der eine Dichtung Neumeisters zugrunde liegt. Nachweislich erklang sie in Hamburg in den Jahren 1723 und 1728. Neumeister knüpft in seiner Dichtung an die Epistellesung (Offb. 12, 7- 12: Kampf Michaels mit dem Drachen) an. Sie wird als Allegorie des Sieger Christi über Teufel und Sünde ausgelegt und veranlasst (im Rezitativ, das überwiegend arios gestaltet ist) eine ausführliche Ermahnung zur Demut.
Die einleitende Chorfuge (Offb. 5, 5) und die darauffolgende Arie sind insofern aufeinander bezogen, als sie beide Christus als den Sieger mit Pauken und Trompeten verkündigen. Die Arie ist dabei ganz von trompetenartiger Motivik durchdrungen, die sich v. a. in der Dreiklangsbetonung der Gesangsmelodik sowie der Streicherfiguration bemerkbar macht. Nicht zufällig wirkt diese idiomatische Gestaltungsweise bis in den Mittelteil der zweiten Arie fort, wo vom Text .her wiederum Bezug auf den siegreichen Christus genommen wird, während die Außenteile, die vom Tod und seiner Not handeln, im Ausdruck verhaltener sind. Der feierlich intonierte Schlusschoral bringt die Verse 9 und 10 des Liedes "Oh Gott, der du aus Herzensgrunde" (17. Jhd.).
Der anonyme Textdichter der Kantate "Lobt ihn mit Herz und Munde" (BWV 2201 Anhang ll 23 -) macht in seiner Dichtung die Freude über Gott und sein Erlösungswerk zum Thema. lm - wiederum zentral gelegenen - Rezitativ nimmt er Bezug auf die dem Evangelium vorangehende, in das Magnificat mündende Perikope vom Besuch Marias bei Elisabeth (Luk. 1, 39-56). Der Eingangschoral gibt das Thema der Kantate mit Vers 5 des Liedes "Von Gott will ich nicht lassen" ('16. Jhd.) an. Ebenso wie der Schlusschor (Jes. 61 , 10a) ist er im schlichten vierstimmigen Satz gehalten, bei dem die Instrumente colla parte geführt werden. Beide Arien sodann fordern zwei Holzbläser (2 Oboen bzw. Flöte und Oboe), die mit den Streichern und den Solostimmen in ein konzertantes Wechselspiel treten. Die dadurch entstehende locker gefügte Satzstruktur verfestigt sich lediglich in den Außenritornellen.
Die Kantate "Wer sucht die Pracht, wer wünscht den Glanz?" (BWV 221lAnhang 23 +) unterscheidet sich durch ihren Umfang, die Konzeption als Solokantate sowie die eröffnende instrumentale Sinfonia von den vorhergehenden Werken. Das Duett (Nr. 3) stellt einen - auch musikalisch sinnfällig werdenden - Dialog zwischen der Seele und dem lch dar. Wie auch im Schlussduett (Nr. 9) ist hier das Satzbild ganz auf die Präsentation der Solostimmen ausgerichtet. Die erste Arie (Nr. 5) dagegen stellt der Singstimme eine Solovioline gegenüber bzw. an die Seite. Auch die zweite Arie ist mit einem Soloinstrument, einem Fagott, versehen. Dieses verstärkt freilich - seltsamerweise - lediglich den Solo-Bass.
Die Kantate "Mein Odem ist schwach" (BWV 222lAnhang lll 157 +) ist eine Komposition von Johann Ernst Bach (1722-77), der als ein Sohn von J. S. Bachs Vetter Johann Bernhard Bach Schüler des Thomaskantors war und 1756 Kapellmeister in Weimar wurde. Auch dieses Werk weicht von der Struktur der ersten 4 Kanteten ab, da es ohne Rezitative auskommt und dem Chor, der 4 der 6 Sätze bestreitet, einen ungewöhnlich breiten Raum lässt. Der 1. Satz stellt einen schlichten Choralsatz dar, der von einem Basssolo tropiert wird. Der Chorsatz Nr. 3 (Phil. 3, 20-21a\ beginnt ebenfalls simpel homophon, geht dann aber in einen fugierten Satz über. Der darauffolgende Choral (Nr. 4) sowie die Choralbearbeitung für Sopran und 2 ihn figurativ umspielende Soloviolinen (Nr. 5) bringen je eine weitere Strophe des im Eingangsstück verarbeiteten Kirchenliedes. Der Schlusschor (Nr. 6;2. Kor. 5, 8) schließlich ist eine Fuge. Der Befund, dass alle chorischen Stücke von den Instrumenten lediglich verstärkt werden, erklärt die Tatsache, dass die Sätze 3.4 und 6 der Kantate auch als Motette in einer a-cappella-Fassung überliefert werden konnten.
"So siehet eine Cantata nicht anders aus, als ein Stück aus einer Opera, von Stylo Recitativo und Arien zusammengesetzt", charakterisierte Erdmann Neumeister (1671-1756), Hofprediger in Weißenfels und ab 1715 Hamburger Hauptpastor, den von ihm geschaffenen modernen Typus der Kirchenkantate. Dieser Typus verdrängte ab ca. 1700 die ältere Kantate in ihrer Stellung nicht nur als der wichtigsten Gattung der evangelischen Kirchenmusik, sondern auch als einer der zentralen Gattungen der Kunstmusik nach der Oper- Hatte der ältere Typus vom Text her auf Bibelwort und Kirchenlied und musikalisch auf der kleingliedrigen Reihung einzelner, kontrastierender Teile gefußt (man denke etwa an den "Actus tragicus" BWV 106), so führte der neumeistersche Typus mit der madrigalischen Dichtung, die große Freiheiten bzgl. Strophen- und Zeilenlänge, des Metrums und der Reimbindung zuließ, den kunstvoll geschmückten Stil sowie die aus der Oper stammenden musikalischen Formen Rezitativ und (Dacapo-) Arie in die Kantate ein. Indem Neumeister schließlich ab 1711 in seine Kantatendichtungen Kirchenlied und Bibelwort wieder einbezog, vereinigten sie literarische Modernität, Traditionsbezug und formale Vielfalt. Sie ermöglichten den Komponisten die Anwendung einer breiten Palette gestalterischer Möglichkeiten: Nicht nur Rezitative und Arien, sondern auch motettische und konzertante Chöre, schlichte Choräle und instrumentale Sätze ließen sich in sie einbringen. Die Übernahme weltlicher Formen ging gleichwohl - wenigstens bei Neumeister - nicht mit einer Dramatisierung der Kantate einher. Als auf die Predigt (als dem Höhepunkt des protestantischen Gottesdienstes) bezogene Gottesdienstmusik war die Kantate auslegende Perikopendichtung in lutherisch-orthodoxer Predigttradilion.
Die evangelische Kirchenkantate (meist als "Kirchen-Stück" im Unterschied zur "Cantata", der italienischen Solokantate, bezeichnet) genoss bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts ein ungeschmälertes Ansehen. Dies zeigte sich erstens an der umfangreichen Produktion" Hier nehmen sich die ca. 200 erhaltenen Werke Bachs bescheiden aus im Vergleich zu den über 900 nachgewiesenen Kanteten des seit 1 719 in Gotha wirkenden Kapellmeisters Gottfried Heinrich Stölzel oder zu den jeweils über 1400 Kantaten Graupners und Telemanns. Zweitens war die Kantate nicht bloß eine musikalische Gattung, sondern gleichermaßen eine poetische. Wenn auch die Masse der Texte von wenig bekannten Theologen oder Philologen - teilweise in Absprache mit den Komponisten - erstellt wurde, so beteiligten sich doch namhafte Dichter wie z. B. Christian Friedrich Hunold, vereinzelt sogar Johann Christoph Gottsched, mit normsetzenden Beiträgen an ihr. Drittens diente die Kirchenkantate als wichtiges Demonstrationsobjekt der Musiktheorie. Einerseits gab sie die Beispiele für die Kontrapunkt- und Generalbasslehre sowie für die Theorie des Rezitativs her, andererseits wurde gerade die Vielfalt ihrer Formen und Verfahren zum Auslöser für eine Gattungsdiskussion. Viertens schließlich lösten Neumeisters Neuerungen eine öffentliche Kontroverse über das Wesen der Kirchenmusik aus, die an ältere theologische Polemiken für und gegen die Figuralmusik anknüpfte und gerade dabei von der ungebrochenen Aktualität und dem allgemeinen Interesse an der geistlichen Musik und ihren Gattungen zeugte. lmmerhin erreichte die Kantate in einer Zeit, die das öffentliche Konzert noch nicht kannte, wie keine andere Musik breite Hörerschichten. Sie erklang auch in Orten, wo es weder Opern- noch Kammermusikaufführungen gab.
Der Sachverhalt, dass verschiedene Kantaten (wie auch diverse andere Werke) anderer Komponisten als Werke Johann Sebastian Bachs bezeichnet worden sind, hängt mit der Überlieferungssituation des Bachschen OEuvres zusammen. Große Teile liegen nämlich nur in Abschriften von z. T. mangelhafter Qualität vor. lhre Beschaffenheit erlaubt oft keinen sicheren Beweis für die Autorschaft Bachs. Erschwerend kommt hinzu, dass Abschriften fremder Kompositionen von der Hand Bachs überliefert sind, so dass also die Existenz eines Autographs alleine noch keine Eindeutigkeit schafft. (Anders sieht es jedoch aus, wenn Bach sich selbst als Verfasser bezeichnet oder seine Handschrift Konzeptcharakter hat, so dass eine fremde Vorlage ausgeschlossen werden kann.) Diese Umstände führten dazu, dass die 6 vorliegenden Kantaten - wenn auch mit einigen Fragezeichen - in das 1950 veröffentlichte Bach-Werke-Verzeichnis von Wolfgang Schmieder unter den Nummern 217-22 aufgenommen wurden. Vier von ihnen (BWV 21 7-20) waren 1894 im 41 . Band der Bach-Gesamtausgabe, der unvollständige und unsichere Werke vereinigte, im Druck erschienen. Die neuere Forschung erbrachte dann allerdings starke bis unzweifelhafte Argumente für die Nicht-Authentizität aller 6 Kantaten. Sie rückten deshalb in der überarbeiteten Ausgabe des Bach- Werke-Verzeichnisses von 1990 in die Anhänge ll (= zweifelhafte, J. S. Bach nicht zuzuschreibende Werke mit unbestimmter Autorschaft) und lll (= Bach fälschlich zugeschriebene Werke, deren Verfasser festgestellt sind). Die Tatsache, dass sich Telemann als der Komponist von zweien dieser Werke herausstellte, ist insofern bemerkenswert, als Telemann darüber hinaus mit 3 weiteren Kantaten sowie einem Kantatensatz im Bach-Werke-Verzeichnis vertreten ist. Darin dokumentiert sich das Interesse Bachs an seinem Kollegen, dessen Kantaten er sich möglicherweise aus Eisenach besorgte, um sie in Leipzig (am Anfang der dreißiger Jahre?) aufzuführen.
Der unbekannte Textdichter der Kantate "Gedenke, Herr, wie es uns gehet" (BWV 217 / Anhang ll 23 ) knüpft in seiner Dichtung an das Motiv des verschwundenen Jesus aus dem Evangelium (Luk. 2, 41-52: Der zwölfjährige Jesus im Tempel) an. Er gibt ihm einen Gegenwartsbezug: Nicht mehr die Eltern haben ihren Sohn, sondern der Sünder hat seinen Erlöser verloren. Nur Buße und Glaube führen wieder zu ihm hin.
Der einleitende Chorsatz (Klgl. 5, 1 u. 15), der auf eindringliche Deklamation und Affektausdruck zielt, ist durch eine Art Klangband der Violinen und der Viola geprägt, in das die homophon-blockartig gefügten chorischen Abschnitte eingefügt sind. Beide Schichten im Satz wechseln sich ab, ergänzen einander und interpretieren sich gegenseitig: Markiert die Seufzermotivik der Streicher den klagenden Grundaffekt des Satzes, so spricht der Chor von der sündigen Grundstruktur des Menschen. Die Arie mit ihrer homophonen Satzstruktur und der Konzentration auf die Melodie stellt eine typische Dacapo-Arie im neuen Stil nach 1720 dar- Bemerkenswert an ihrem Mittelteil sind die Indienstnahme der Gesangsvirtuosität für den Textausdruck und die deutliche motivische Beziehung zu den Außenteilen. Der Schlusschor bleibt seltsam zwiespältig: lm hoffnungsvoll-freudigen Dreiertakt gehalten, verbleibt er doch in d-moll.
Die Kantate "Gott der Hoffnung erfülle euch" (BWV 218 / Anhang lll 157 bzw. TVWV 1: 634) ist zuverlässig als Komposition Telemanns überliefert. Sie entstand 1717 als Teil eines Kantaten-Jahrgangs für den Eisenacher Hof, dem bis zum 1. Pfingsttag ausschließlich Dichtungen Erdmann Neumeisters zugrunde lagen. Aufführungen in Frankfurt a. M. bzw. Eisenach sind für 1717, 1720 und 1731 belegt. In seiner Hamburger Zeit griff Telemann auf einzelne Sätze daraus zurück.
Der Eingangschor ist als Concerto mit 2 obligaten Hörnern (und damit für den Pfingsttag nicht übermäßig festlich) und figurierenden Violinen komponiert. Der Chorsatz (Röm. 15, 13) besteht auch hier überwiegend aus homophon-deklamierenden Blöcken, die allerdings anfänglich noch polyphon aufgelockert sind. Die folgende dreiteilige Arie zeichnet sich sodann durch ihre grundsätzliche Zweistimmigkeit (Streicherunisono und Singstimme) aus. Ganz anders dann die zweite Arie: Sie ist konzertant als Wechselspiel zwischen den Hörnern, Violinen und dem Solosopran gestaltet. Das dazwischen stehende Rezitativ enthält einige schöne Beispiele für bildhafte Klangrede, so z. B. bei den Worten "Kämpfen", "heldenhaft" und "Lebenslauf".
Auch die Kantate "Siehe, es hat überwunden der Löwe" (BWV 219 / Anhang lll 157 + bzw. TVWV 1: 1328) ist eine Komposition Telemanns, der eine Dichtung Neumeisters zugrunde liegt. Nachweislich erklang sie in Hamburg in den Jahren 1723 und 1728. Neumeister knüpft in seiner Dichtung an die Epistellesung (Offb. 12, 7- 12: Kampf Michaels mit dem Drachen) an. Sie wird als Allegorie des Sieger Christi über Teufel und Sünde ausgelegt und veranlasst (im Rezitativ, das überwiegend arios gestaltet ist) eine ausführliche Ermahnung zur Demut.
Die einleitende Chorfuge (Offb. 5, 5) und die darauffolgende Arie sind insofern aufeinander bezogen, als sie beide Christus als den Sieger mit Pauken und Trompeten verkündigen. Die Arie ist dabei ganz von trompetenartiger Motivik durchdrungen, die sich v. a. in der Dreiklangsbetonung der Gesangsmelodik sowie der Streicherfiguration bemerkbar macht. Nicht zufällig wirkt diese idiomatische Gestaltungsweise bis in den Mittelteil der zweiten Arie fort, wo vom Text .her wiederum Bezug auf den siegreichen Christus genommen wird, während die Außenteile, die vom Tod und seiner Not handeln, im Ausdruck verhaltener sind. Der feierlich intonierte Schlusschoral bringt die Verse 9 und 10 des Liedes "Oh Gott, der du aus Herzensgrunde" (17. Jhd.).
Der anonyme Textdichter der Kantate "Lobt ihn mit Herz und Munde" (BWV 2201 Anhang ll 23 -) macht in seiner Dichtung die Freude über Gott und sein Erlösungswerk zum Thema. lm - wiederum zentral gelegenen - Rezitativ nimmt er Bezug auf die dem Evangelium vorangehende, in das Magnificat mündende Perikope vom Besuch Marias bei Elisabeth (Luk. 1, 39-56). Der Eingangschoral gibt das Thema der Kantate mit Vers 5 des Liedes "Von Gott will ich nicht lassen" ('16. Jhd.) an. Ebenso wie der Schlusschor (Jes. 61 , 10a) ist er im schlichten vierstimmigen Satz gehalten, bei dem die Instrumente colla parte geführt werden. Beide Arien sodann fordern zwei Holzbläser (2 Oboen bzw. Flöte und Oboe), die mit den Streichern und den Solostimmen in ein konzertantes Wechselspiel treten. Die dadurch entstehende locker gefügte Satzstruktur verfestigt sich lediglich in den Außenritornellen.
Die Kantate "Wer sucht die Pracht, wer wünscht den Glanz?" (BWV 221lAnhang 23 +) unterscheidet sich durch ihren Umfang, die Konzeption als Solokantate sowie die eröffnende instrumentale Sinfonia von den vorhergehenden Werken. Das Duett (Nr. 3) stellt einen - auch musikalisch sinnfällig werdenden - Dialog zwischen der Seele und dem lch dar. Wie auch im Schlussduett (Nr. 9) ist hier das Satzbild ganz auf die Präsentation der Solostimmen ausgerichtet. Die erste Arie (Nr. 5) dagegen stellt der Singstimme eine Solovioline gegenüber bzw. an die Seite. Auch die zweite Arie ist mit einem Soloinstrument, einem Fagott, versehen. Dieses verstärkt freilich - seltsamerweise - lediglich den Solo-Bass.
Die Kantate "Mein Odem ist schwach" (BWV 222lAnhang lll 157 +) ist eine Komposition von Johann Ernst Bach (1722-77), der als ein Sohn von J. S. Bachs Vetter Johann Bernhard Bach Schüler des Thomaskantors war und 1756 Kapellmeister in Weimar wurde. Auch dieses Werk weicht von der Struktur der ersten 4 Kanteten ab, da es ohne Rezitative auskommt und dem Chor, der 4 der 6 Sätze bestreitet, einen ungewöhnlich breiten Raum lässt. Der 1. Satz stellt einen schlichten Choralsatz dar, der von einem Basssolo tropiert wird. Der Chorsatz Nr. 3 (Phil. 3, 20-21a\ beginnt ebenfalls simpel homophon, geht dann aber in einen fugierten Satz über. Der darauffolgende Choral (Nr. 4) sowie die Choralbearbeitung für Sopran und 2 ihn figurativ umspielende Soloviolinen (Nr. 5) bringen je eine weitere Strophe des im Eingangsstück verarbeiteten Kirchenliedes. Der Schlusschor (Nr. 6;2. Kor. 5, 8) schließlich ist eine Fuge. Der Befund, dass alle chorischen Stücke von den Instrumenten lediglich verstärkt werden, erklärt die Tatsache, dass die Sätze 3.4 und 6 der Kantate auch als Motette in einer a-cappella-Fassung überliefert werden konnten.
Rezensionen
Dieter Steppuhn in FonoForum 9/92:"Hört man die Werke,begreift man,warum Bachs Autor- schaft nahe lag - vieles darin klingt so,wie Bach es in seinen Kantaten schrieb.So ist es verdienstvoll und in dieser aufregenden Inter- pretation auch ein Glücksfall,daß cpo zusam- men mit Radio Bremen diese "apokryphen" Bach-Kantaten aufgenommen hat...Wolfgang Helbich standen dafür Kräfte zur Verfügung, deren Darstellung unter Beachtung historischer Aufführungsregeln voll Atem,Schwung und mit eindrucksvoller Präzision der vibratolos ge- führten Stimmen bei phantastischer Textver- ständlichkeit wie aus einem Guß wirkt.Hundert Minuten spannender Kantatenmusik." R.Scharz in "Alte Musik aktuell" 8/92: "Musik von bester Qualität.Interpretation auf höchstem Niveau."- Tracklisting
- Details
- Mitwirkende
Disk 1 von 2 (CD)
Gedenke, Herr, wie es uns geht BWV 217 (Kantate)
- 1 Chor: Gedenke, Herr wie es uns gehet
- 2 Rezitativ: Ach, Jesu ist verloren!
- 3 Arie: Saget mir, beliebte Felder
- 4 Rezitativ: Sei kummervolles Herz, getrost
- 5 Chor: Ändert Euch, ihr Klagelieder
Gott der Hoffnung erfülle euch BWV 218 (Kantate)
- 6 Chor: Gott der Hoffnung erfülle euch
- 7 Arie: Glaub'und Hoffnung
- 8 Rezitativ: Weil wir nichts ohne dich
- 9 Arie: Ihr Christen, wollt ihr selig sein?
- 10 Chor: Komm, Gott Schöpfer, heiliger Geist
Siehe, es hat überwunden der Löwe BWV 219 (Kantate)
- 11 Chor: Siehe! es hat überwunden der Löwe
- 12 Arie: Gott stürzet den Hochmuth
- 13 Rezitativ: Mensch, willst du nicht dein Heil
- 14 Arie: Wenn in meinen letzten Zügen
- 15 Chor: Lass seine Kirch' und unser Land
Disk 2 von 2 (CD)
Lobt ihn mit Herz und Munde BWV 220 (Kantate)
- 1 Chor: Lobt ihn mit Herz und Munde
- 2 Arie: So preist den Höchsten
- 3 Rezitativ: Auf Gottes Preis muss alle Freude zielen
- 4 Arie: Sich in Gott und Jesu freuen
- 5 Chor: Ich freue mich im Herrn
Wer suchte die Pracht, wer wünscht den Glanz BWV 221 (Kantate)
- 6 Sinfonia
- 7 Rezitativ: Wer sucht die Pracht
- 8 Duett, Arie: Seele, bsuchst du dein Vergnügen
- 9 Rezitativ: Umsonst ist hier die Kunst
- 10 Arie: Felsenfest muss der Grund im Herzen stehen
- 11 Rezitativ: So ist denn das dein einziges Bemühen
- 12 Arie: Entfernet euch Vergänglichkeiten
- 13 Rezitativ: O, schöner Schluß, o wohl! der nie mißlungen
- 14 Duett, Arie: Der Himmel selbst zerfällt
Mein Odem ist schwach BWV 222 (Kantate)
- 15 Arie: Mein Odem ist schwach
- 16 Arie: O, seyd mir sehnsuchtsvoll geküßt
- 17 Chor: Unser Wandel ist im Himmel
- 18 Chor: Wie du mir Herr befohlen hast
- 19 Arie: Laß mich nur, Herr
- 20 Chor: Wir aber sind getrost
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