Fulminantes, zu Unrecht weitgehend ignoriertes Klavierkonzert
Der Komponist Joachim Raff ist heute völlig unterschätzt. Denn eigentlich nimmt er vorweg, was später Mahler geleistet hat: aus verschiedenen Epochen Anregungen aufzugreifen und mit einer großen Vielfalt zu harmonischen Werken zusammenzuführen. Man hört gelegentlich Anklänge an Bach, auch Beethoven, während Raffs eigener, immer dominierender Stil etwa so klingt, wie wohl ein älterer Mendelssohn komponiert hätte. Bemerkenswert ist aber, dass man nicht nur Anklänge an Werke von Komponisten vor Raff hört, sondern dass es bei ihm - und sehr ausgeprägt hier in dem Klavierkonzert - auch massiv nach Tschaikowsky, ja sogar Rachmaninow klingt. Nur - Tschaikowsky erstes Klavierkonzert entstand wenige Jahre nach Raffs Klavierkonzert, und Raffs Musik war Tschaikowsky gut bekannt; er rechnete ihn selbst zu den führenden Symphonikern. Im mächtigen Höhepunkt des langsamen Satzes übertrifft Raffs Klavierkonzert fast die Klavierkonzerte von Tschaikowsky und Rachmaninow; letzterer war noch nicht einmal geboren, als Raff 1870 sein Klavierkonzert schrieb. Hinzu kommt - neben dem virtuosen Klaviersatz - eine unglaubliche handwerkliche Qualität der Orchestrierung: Grundsätzlich instrumentiert Raff immer weit interessanter, abwechslungsreicher als z.B. sein Zeitgenosse Brahms. Trotz oft sehr polyphonen Orchestersatzes klingen Raffs Werke immer sehr gut, farbig, aber nie "überorchestriert".
Es ist völlig unverständlich, wie der europäische Klassikbetrieb ein solches Meisterwerk so völlig ignorieren kann. Sind neue Orchesternoten zu teuer, um andere Werke als die sattsam bekannten von Mozart, Beethoven, Schumann und Brahms auf diue Programme zu setzen?
Das erste Konzertstück auf der CD ist im Grunde als Frühwerk eine Art einsätziges Klavierkonzert, fast in der Art, wie sie auch Liszt geschrieben hat, allerdings hier durchweg von heiterem Charakter und blendender Schönheit; für die Pianistin ein hervorragendes Stück, ihre Qualitäten zu zeigen.
Das letzte Stück - ohne Orchesterbegleitung - zeigt, dass Raff auch brillante "Gebrauchsmusik" (nur für sehr gute Pianisten) zu schreiben verstand, was ihm das unverständliche Etikett verschafft hat, ein "Vielschreiber" zu sein. Bei Mozart stört das niemanden, bei Raff und vielen Zeitgenossen wird das zum Fluch: Wer in der Romantik nicht "tiefstgründige Musik" geschrieben hat, wird deshalb gern abqualifiziert. Gegenüber Raff führt eine solche Beurteilung beim allergrößten Teil seiner Symphonien, Konzerte, Ouvertüren und Suiten völlig in die Irre. Und verhindert, dass einer besten deutschen Komponisten (mit schweizerischer Herkunft), der in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts zu den anerkanntesten Komponisten gehörte, heute aus dem Konzertbetrieb nahezu völlig verschwunden ist.
Das Orchester spielt durchaus sehr differenziert, die Pianistin ist sehr gut, und die Aufnahme ist technisch hervorragend gelungen. Ein Tipp: Mit der gleichen Pianistin gibt es auch auf einer Sterling-Aufnahme von 2009 die "Suite für für das Pianoforte mit Begleitung des Orchesters, op. 200": Raff hat mit dem Titel ziemlich untertrieben, denn es handelt sich de facto um ein weiteres, brillantes Klavierkonzert in Suitenform, fünfsätzig, sogar wenige Minuten länger als das Klavierkonzert.