Schubert absolut top, Beethoven flop
Seiji Ozawa war einer der groeszten Dirigenten aller Zeiten, so wie Wilhelm Furtwaengler. Ich meine hiermit vor allem diese unerklaerliche Faehigkeit, dass die Gegenwart eines Menschen ausreicht, ein ganzes Orchester ueber sich selbst hinauswachsen zu lassen. (Fuer Jazz-Freunde: Warum ist Miles so ein groszer Musiker gewesen, obwohl sein Trompetenspiel recht limitiert war und er nur ein zwei Stuecke selbst komponiert hat? Die Anwort ist, dass in seiner Gegenwart alle Musiker in unglaublicher Weise ueber sich selbst hinauswuchsen.)
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Klanglich sind hier Beethovens 7te und Schuberts "Unvollendete" ein ganz groszer Genuss. Waehrend Furtwaengler auch heute noch jaehrlich eine grosze Zahl von neuen audiophilen Auflagen erlebt, scheint Ozawa nur ein Jahr nach seinem Tod voellig vergessen. Die Welt ist nicht gerecht. Nur in Japan sind ein paar seiner groszen Aufnahmen wiederaufgelegt worden, aber nur auf CD statt SACD, und zu anfangs wirklich absolut unverschaemten Preisen.
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Allerdings kann Ozawa Beethoven genausowenig spielen wie Furtwaengler. Beide ignorieren die Tempoangaben Beethovens, die fuer Beethoven so essential waren, dass Beethoven allen seinen Symphoniesaetzen nachtraeglich Metronomangaben mitgegeben hat. Der Grund hierfuer ist, dass fuer Beethovens Kompositionen das Tempo von weit groeszerer Relevanz ist, als bei allen anderen Komponisten. Das gilt in besonderer Weise auch fuer seine Symphonien, weil diese auf eine Gestaltwirkung abzielen, die bei falschen Tempi entfaellt. Ozawa liegt bis auf den ersten Satz, der nur ein wenig zu langsam ist, heftig neben Beethovens Metronomangaben. Der zweite ist zu schnell, klingt aber kaum gehetzt. Der dritte und vierte Satz sind viel zu langsam. Wenn man wissen will, wie das klingen muss, sei die Einspielung von Rene Leibowitz Anfang der 1960er Jahre empfohlen, die es in groszartiger Tonqualitaet bei den Chesky Brothers auf CD und vielfach audiophil auf LP gibt. Wenn man vor und nach dieser Aufnahme Ozawas von der 7ten jeweils einmal die von Leibowitz hoert, kann man sich aber durchaus an der Feinsinnigkeit, der Fulminanz und der Dynamik von Ozawas Einspielung erfreuen und in der Folge sehr gut (auch ueber die falschen Tempi hinausgehend) begreifen, wie man es eben nicht machen darf. Fuer mich war das jedenfalls sehr aufschlussreich. Eine faszinierende Fehlinterpretation!
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Schubert ist, was die Tempi angeht, geradezu ein Antipode von Beethoven. Von Artur Schnabel bis zu Sviatoslav Richter ist die Interpretation von Schuberts Klaviersonaten essentiell mit der Absenkung der Tempi in den ersten Saetzen verbunden. Die Tempoangabe "Moderato" bei Schubert wird heute als viel langsameres Tempo gedeutet als jenes, das man heutzutage sonst ueberall darunter versteht und lehrt. Da Schubert keine Metronomisierung vorgenommen hat, ist bei Schubert auch alles legitim. Darueberhinaus geht die von Glenn Gould auf vielen Videos beschriebene Wirkung von Schuberts Sonaten bei Richter gerade von der Tempoabsenkung aus, welche die Wirkung in erstaunlicher, sonst nirgendwo zu findender Intensitaet steigert, was inzwischen sogar ganz klar die Mehrheitsauffassung ist. Ozawas Problem mit den Tempi bei Beethoven faellt also bei Schubert ganz weg, aber Feinsinnigkeit und Fulminanz werden sogar noch gesteigert. Die Stufendynamik Schuberts wird auch getroffen. Schuberts ganz spezielles Zeitgefuehl wird vom ganzen Orchester wunderbar geteilt. Ueber diese leicht zu beschreibenden Aspekte hinaus, trifft Ozawa Schuberts Geist in einer Weise, wie man es fuer einen in China aufgewachsenen Japaner, der sein Leben in den USA verbracht hat, nicht fuer moeglich halten kann, angesichts der vielen japanischen und amerikanischen Virtuosen, fuer die Schubert immer ein Buch mit sieben Siegeln bleiben wird; vom Denken der Wiener ganz zu schweigen. Da Ozawa sich ja nur auf Japanisch wirklich ausdruecken konnte, hatte er hier mit dem ganz groszartigen Saito Kinen erstmals ein Orchster, dem er bei den Proben komplizierte Intentionen auch verbal vermitteln konnte. In der Tat faellt mir keine bessere Aufnahme von Schuberts Unvollendeten als diese hier ein. Wirklich ein Muss fuer jede Schubert-Sammlung.