Erster Mitschnitt der "Johannes-Passion" - ein Dokument
Kleiber, Erich (live: 22.09.1938, Buenos Aires) – Koloman von Pataky, Herbert Janssen, Margherita Perras (fälschlich als Margarita Perkas), Karin Maria Branzel, Emanuel List, Coro e Orquestra des Teatro Colón [127:31]
Eine Passion mitten im September? Man mag sich fragen, warum Erich Kleiber die Bach’sche Johannes-Passion 1938 weitab der Passionszeit im Teatro Colón in Buenos Aires aufführte. War es ein Kommentar zur Sudetenkrise, zum drohenden Krieg Deutschlands mit der Tschechoslowakei, in der Kleiber seine Kindheit und Jugend verbracht hatte? Leidensgeschichte?
Wie man diese Aufführung auch verstehen mag: der Mitschnitt dieser Aufführung der Johannes-Passion ist der älteste, der uns gegenwärtig vorliegt.
Insgesamt ist es keine Aufnahme, die ich jenem Klassikfreund empfehlen würde, der nur eine oder auch nur zwei Einspielungen des Werkes in seinem heimischen CD-Regal unterbringen will. Dafür ist allein schon die Tonqualität verantwortlich, die zwar streckenweise erstaunlich gut, im Großen und Ganzen jedoch so schlecht ist, dass sie den Kern des Begriffes „Passion“ für den heutigen Hörer ganz intensiv nachvollziehbar macht. Da rauscht und knackt es nicht nur, es gibt nicht bloß ständige massive Schwankungen in der Lautstärke: das Band leiert streckenweise dermaßen, dass die Tonarten in den Stücken selbst verzerrt werden und deren Verhältnisse von Satz zu Satz bisweilen dermaßen verschwimmen, dass es dem wenig Wackeren kalt den Rücken hinunterlaufen muss.
Erschwert wird der Hörgenuss auch dadurch, dass der Mitschnitt zwar ziemlich, aber doch nicht vollkommen komplett ist. Es fehlen an den überraschendsten Stellen immer wieder ganze Takte, was bisweilen schon sehr irritieren kann. Komplett fehlt das Bass-Arioso „Betrachte, meine Seel’“, wobei ich nicht glaube, dass nun gerade dieses als einziges gestrichen wurde. Ich mutmaße einfach einmal, dass es nicht mehr vorliegt. Hier eine kleine Übersicht über die Lücken:
Nr. 1: Takt 55, 3. Zählzeit fehlt; beim Da capo fehlt das Orchestervorspiel, der Chor setzt direkt ein
Nr. 5: Takt 4, 4. Zählzeit – Takt 5, 3. Zählzeit fehlt
Nr. 15: Takte 13-15 fehlen
Nr. 17: 2. Strophe fehlt
Nr. 19: fehlt
Nr. 20: Takt 1 fehlt; Takt 11, 2. Zählzeit bis Takt 18 fehlen; nur die Orchestereinleitung wird wiederholt
Nr. 27a: Takt 1 fehlt
Nr. 28: Takte 15 und 16 fehlen
Nr. 29: Takte 1 und 2 fehlen
Nr. 39 Takte 1-12, Zählzeit 2 (Orchestervorspiel) fehlen
Darüber hinaus ist die Herangehensweise Kleibers an das Werk in Teilen für mich kaum noch zu ertragen. Ich sage bewusst „in Teilen“, denn hier und dort zeigt die Aufnahme auch, wie gut Bach auch in den 30er Jahren klingen konnte.
Allen voran zu loben ist Koloman von Pataky als Evangelist. Pataky bringt alles mit, was ich mir auch heute wünsche, wenn es um diese Partie geht: eine leicht geführte Stimme mit klarem Timbre, kraftvoll, aber immer ganz frei und ohne Anstrengung. Daneben: ein ganz unverkrampfter, gewissermaßen „natürlicher“ Umgang mit dem Text, nicht zuviel Schnickschnack in der Ausdeutung – wenn man natürlich von dem einen oder anderen Moment absieht, der mir dem Zeitgeschmack geschuldet zu sein scheint (z.B. das Weinen Petri). In „Ach, mein Sinn“ oder bei der Darstellung der Geißelung hingegen hat er es nicht leicht. Kleibers Dirigat ist hier dermaßen zäh, so wenig bewegt, dass ich das Gefühl habe, es ginge überhaupt nicht voran. Was soll der Solist da noch retten? Technische Schwierigkeiten bereitet Pataky dennoch nichts. Überzeugen kann das aber dennoch nicht. Überhaupt sind die Arien (und die beiden großen Chorsätze) die Schwachpunke dieser Deutung. Dass man Wucht und langsames Tempo auch in jenen Jahren als angemessenen Ausdruck der „Größe“ des Werkes sah, kann ich ja noch nachvollziehen. Aber die Arien? Die sind oft so breit, dass auch ein so hervorragender Dirigent wie Kleiber das, was er da macht, nicht mehr zusammenhalten kann. Die guten Solisten helfen ein wenig darüber hinweg, weil sie dennoch so gut singen, wie es eben geht.
Sopranistin Margherita Perras hat es da noch verhältnismäßig gut, da Kleiber für „Ich folge Dir gleichfalls“ ein einigermaßen fließendes Tempo wählt. Sie gefällt mir nicht nur aufgrund ihrer schönen, hell gefärbten, aber dennoch sehr körpervollen Stimme, sondern speziell wegen ihrer vollkommen allürenfreien Darstellung und der Tatsache, dass sie sehr gut artikuliert, selbst wenn Kleiber die ohnehin schon heiklen Arie „Zerfließe, mein Herze“, in der manch eine Sopranistin mehr oder weniger zur Vokalise neigt, im Schneckentempo musizieren lässt.
Karin Maria Branzel ist ein echter Alt mit voluminöser, aber nicht dicker Stimme, warmem Ton und hervorragender Artikulation. Auch sie kommt mit Kleibers Tempovorstellungen zurecht, wenngleich auch sie es nicht verhindern kann, dass „Von den Stricken meiner Sünden“ aufgrund des gewählten Tempos vollkommen auseinanderbricht. Da betreibt sie eher Schadensbegrenzung als hohe Gestaltungskunst. Anders jedoch „Es ist vollbracht!“, das ja ohnehin langsam gespielt und von Kleiber auch nicht in extra slow motion gespielt wird. Hier kann man hören, wie überzeugend Branzel unter normalen Zuständen Bach interpretieren konnte.
Ähnlich geht es Emanuel List, der die Bass-Partie(n) übernimmt. Er bringt einen starken, aber nicht aufdringlichen Bass mit und ein untrügliches Gefühl für die szenische Gestaltung der Rezitative. Macht es Spaß ihm dort zuzuhören, so kämpft er in seinen Arien ziemlich mit Kleibers Trägheit. Schade ist, dass er sich in „Eilt ihr angefochtnen Seelen“ offensichtlich verzählt und dermaßen herauskommt, dass es die halbe Arie braucht, bis er wieder hineingefunden hat. „Mein teurer Heiland, lass dich fragen“ klingt dann wieder, als verstreiche man ganz wenig Butter auf zuviel Brot.
Lediglich Herbert Jenssen Darstellung der Christus-Partie erreicht mich nicht. Nicht nur, dass mir sein etwas kartoffeliger Bariton nicht gefällt (dem das tiefe Register vollkommen abgeht). Auch die Charakterisierung der Figur ist in meinen Ohren nicht stimmig. Zuerst sehr sanft, etwas salbadernd, dann vor den Hohepriestern mit erstaunlich viel Biss, vor Pilatus erstaunlich blass, auf Golgatha unerfreulich larmoyant.
Ist das jetzt zur Genüge benannte Problem wahrhaftig ein solches, so möchte ich doch nicht verschweigen, dass dieser erste aller Mitschnitte auch seine Meriten hat. Angedeutet habe ich es schon: die Rezitative, die Vorwärtsbewegung der Handlung gelingt gut. Da klingt es nach durchweg geistlicher Bühne, nach Drama - nicht nach Epos. Hier fügen sich auch die Turbae glänzend ein, sind sie doch – bis auf das kurze, aber heikle „Bist du nicht seiner Jünger einer“ – so packend und griffig musiziert, dass sich so manche spätere Aufnahme hier ein Scheibchen abschneiden könnte. Sicher, der Chor des Teatro Colón ist ein Massenensemble, wie es auch Beechams „Messiah“ gut zu Gesicht gestanden hätte, aber sie singen – wenn auch nicht immer schön – so doch mit Einsatz, Leidenschaft und Überzeugungskraft.
Hingegen werden der Eingangschor („Herr, unser Herrscher“) und der große Schlusschor („Ruhet wohl“) als das Geschehen umrahmende Monumente musiziert: groß, laut, langsamst. Auch heute nimmt nicht jeder Dirigent diese Chöre eilig. Aber bei Kleiber klingt diese Musik nicht – wie bei Herrweghe, Koopman oder Brüggen - wie mystische Versenkung oder Meditation. Hier klingt sie fast wie tot. Ähnliches gilt - auch dies ein Zeichen der Zeit - für die im breiten Einheitstempo musizierten Choräle, die lediglich dynamisch gegeneinander abegrenzt werden.
Kleibers Lesart der Johannes-Passion empfinde ich aus heutiger Perspektive als einigermaßen unausgewogen. Damals mag sie beeindruckt, ja im Bereich der Rezitative und Turbae sogar erstaunlich modern geklungen haben. Für den an der Rezeptionsgeschichte des Bach'schen Vokalschaffens ist dies in jedem Fall ein interessantes Dokument.