Höchst differenzierte Interpretation
Die jüngste in der der langen Reihe der „Saul“-Einspielungen wurde im Januar 2012 in der Londoner St. Augustine’s Church unter der Leitung von Harry Christophers aufgezeichnet. Sie basiert, so berichtet Christophers im Beiheft zur Aufnahme, nicht nur auf der von Anthony Hicks herausgegebenen Ausgabe des "Saul", sie setzt auch eine der zentralen Thesen Hicks’ zum „Saul“ um: Hier ist die Rolle des David nicht mit einem Countertenor, sondern mit einem Mezzosopran besetzt.
Dazu Christophers:
„Eines der Rätsel des ‚Saul’, das er (= Hicks) löste, betrifft die Rolle des David, von der man üblicherweise meint, sie sei für einen Countertenor komponiert worden. Doch Anthony war sicher, dass sie für die Mezzosopranistin Marchesini geschrieben wurde, wobei es so scheint, als sei sie am Tag der Erstaufführung indisponiert gewesen. Anthony schrieb: ‚Ihr Name ist als Solistin im Autograph an der Stelle von ‚O fatal day’ notiert, wo die Melodie das Fis erreicht. Die Behauptung, dass der männliche Sänger, der die Rolle übernahm, ein Countertenor war, basiert lediglich auf der Annahme, dass er die Rolle in dieser Lage sang; doch gibt es kein Zeugnis zu seiner Singstimme und die Tatsache, dass er als singender Schauspieler in Ballad Operas auftrat, macht es eher wahrscheinlich, dass er ein Tenor war, der die Partie eine Oktave tiefer sang. In Wiederaufnahmen kehrte Händel zur Besetzung mit einem Mezzosopran zurück.’“ (Christophers im Begleitheft zu seiner Aufnahme. S. 3 f. Übers. der Verf.)
Tatsächlich klingt mir die Argumentation durchaus plausibel, insofern freue ich mich, dass sich Christophers und seine „Sixteen“ – der Begriff bezeichnet seit einiger Zeit sowohl den Chor als auch das Orchester – daran gemacht haben, eine Einspielung mit Mezzosopran vorzulegen.
Die Aufnahme ist ihrem Charakter nach ein typischer Christophers. Wer auf der Suche nach einem – wie ich persönlich finde: eindimensionalen - „High-Voltage-Händel“ à la Jacobs ist, der ist bei Christophers mE falsch und wird seine Lesart vermutlich eher „langweilig“ finden. Christophers geht es nicht darum, in rasenden Tempi durch diese Partitur zu brettern. Er legt seine Interpretation epischer an, der Innendruck ist nicht so hoch wie bei Jacobs oder Rademann. Christophers Interpretation hat zwar die Dramatik des Werkes vollkommen im Blick, will aber die Vielfalt der Händel’schen Musik darstellen und der Musik mehr Zeit zum Atmen, zum Klingen geben. Dabei heißt es nicht, dass er beispielsweise grundsätzlich ruhige Tempi wählen würde. Da kann es durchaus rasant zugehen, aber es gibt eben auch immer wieder Ruhepole, beispielsweise zu den Aktschlüssen der ersten beiden Akte. Mich persönlich spricht das an.
Die Solopartien sind nach meinem Dafürhalten fast durch die Bank weg hervorragend besetzt.
Christopher Purves ist ein ganz hervorragender, die Rolle sehr differenziert angehender Saul. Fasziniert bin ich von seiner psychologische Durchleuchtung jedes einzelnen Satzes, ja bald jedes einzelnen Wortes. Da eröffnen sich Facetten, die anderen auf Tonträger gebannten Interpreten dieser Rolle vollkommen entgangen sind. Wie überzeugend gelingt ihm beispielsweise die Darstellung der sich kontinuierlich steigernden Wut in „With rage I shall burst“. In „A serpent in my bosom warm’d“ entfacht er nicht das übliche Toben, sondern schält auch die in jenen Worten mitschwingende Enttäuschung des Monarchen über den vermeintlichen Verdrängungsversuch Davids heraus. Da höre ich nicht nur ein offensichtliches Rasen vor Wut, sondern auch eine große Portion Selbstmitleid. Respekt. Gerade in die Accompagnati ist Purves’ Darstellung kaum zu toppen. Insgesamt eine ganz außergewöhnlich gut gelungene Charakterstudie.
Nun zu Sarah Connolly, die in dieser Aufnahme die Rolle des David übernimmt. Sie hat ohne Zweifel eine ausgesprochen schöne Stimme und ist ganz eindeutig im Vollbesitz ihrer technischen und interpretatorischen Kräfte. Der Connaisseur kann hier also voll und ganz auf seine Kosten kommen: warmes Timbre, hervorragende Führung, vollkommen selbstsicheres, freies Singen. Wie schön klingt da alles! Die üblichen Hürden, über die die meisten Counter schlecht hinwegkommen, existieren für sie nicht, was solchen Arien wie „Your words, o King“ oder „Impious wretch“ natürlich ganz wunderbar bekommt. Ihre pastoralen Arien, allen voran „O Lord, whose mercies numberless“, habe ich balsamischer bisher nicht gehört. Aber - und das möchte ich nicht verschweigen – ein Bild der Figur David ergibt sich für mich nicht so recht. Connolly hat etwas Weiches, ja Mütterliches, das hier meiner Meinung nach nicht hingehört.
Die Rolle des Jonathan wird von Robert Murray gestaltet. Mir gefällt seine jugendliche, helle und dennoch gut unterfütterte Stimme samt seiner lockeren und dennoch körpervollen Höhe hervorragend, die vor meinem inneren Auge das Bild eines jungen, idealistischen Helden unmittelbar entstehen lässt. Das einzige, was mich ein wenig stört, ist sein Hang dazu, die Eleganz seines Gesangs vor die Zeichnung der Rolle zu setzen. Da ist in Ansätzen zwar allerhand zu hören, über die Ansätze geht es indes nicht hinaus. Da scheint mir etwas der Mut zu fehlen.
Joélle Harvey gibt eine mich rundum überzeugenden Michal. Ihre an sich schöne Stimme könnte für mich zwar noch etwas mädchenhafter klingen, aber ihre Phrasierung und ihre Verzierungen sind so delikat, dass ich diesen kleinen Einwand schnell und umfassend vergessen kann. Zudem hat sie einen ausgeprägten Sinn für die glaubwürdige und textnahe Darstellung der Figur. Schlicht herrlich gelingt ihr die Beschwörung der heilsamen Kraft der Musik: „Fell rage and black despair“.
Elizabeth Atherton ist als Merab ideal besetzt. Ihre Stimme bringt eine gewisse, aber nicht unangenehme Schärfe mit, die ganz hervorragend zur Rolle der blasiert-zickigen Schwester passt. Hinzu kommt, dass sie sehr expressiv an die Partie heran geht und ein sehr plastisches Bild der Merab zeichnet. Wie schäumt ihr „My soul rejects the thought with scorn“ vor Wut, wie stechen ihre Hiebe auf Saul und David in „Capricious man, in humor lost“. Das ist schon eine ganz fulminante Leistung.
Mark Dobell liefert mit seiner sehr freien, klangschönen Tenorstimme eine verinnerlichte, aber nie frömmelnde Darstellung des High Priest (sehr schön: „While yet thy tide of blood“), Stuart Youngs Ghost of Samuel vermittelt nicht nur Autorität, sondern vermittelt trefflich die Härte des ungnädigen Gottes.
Sehr erfreulich finde ich Jeremy Budds vollkommen durch die Musik sprechende Zeichnung der Witch of Endor. Weder er noch Christophers bedienen den anscheinend herrschenden Wunsch danach, diese Szene als überzogenes Spektakel zu gestalten. Hier erscheint – und das macht Budds wirklich gut – die Witch nicht als Karikatur im disneyesken „Hänsel-und-Gretel“-Style, sondern als eine ernstzunehmende Figur, die mit Macht über die Welt der Toten ausgestattet ist.
Zu „The Sixteen“ muss ich eigentlich nicht viel sagen. Sowohl das Orchester als auch der Chor gehören zu den besten englischen Ensembles für Alte Musik überhaupt und die vorliegende Aufnahme ist in meinen Augen ein weiterer Beleg für ihre exzeptionelle Qualität. Der Chor klingt immer schlank, verfügt aber spielend über die Kraftreserven, die beispielsweise für die Eckchöre des Epinicions, die Preisgesänge auf Saul und David, den Envy-Chor oder das finale „Gird on thy sword“ nötig sind. Die Präzision im technischen und interpretatorischen Bereich ist meiner Meinung nach wirklich bewundernswert. Gleiches gilt für das Orchester, das die vielen Farben und dieser Partitur innewohnenden Stimmungen vollkommen mühelos herauszuarbeiten versteht. Es wird im besten Sinne selbstverständlich musiziert, gerade so als wäre das die natürlichste Sache der Welt. Vielleicht mag der ein oder andere – mit Recht – finden, dass es pfeffrigere Einspielungen gibt. Mir gefällt Christophers interpretatorisch breiterer Ansatz dennoch ausgesprochen gut.