Großartiges Buch über die Facetten von Trauer & Trauerbewältigung - Realität trifft auf Fiktion
CN: Trauer, Trauerbewältigung, evtl. Depression
"Sie als Familie sind ein zerbrochenes Gefüge. Und die anderen stellen Fragen und kommentieren. Suchen sich aus, wie sie mit ihnen umspringen. Bohren in ihren Wunden. Wissen alles besser und nur, weil die noch ganz sind. Noch unbelehrt vom Tod. Sie sind beschränkt, dumm, hässlich, alt, aber vor allem ganz. Vollständig. Vollzählig."
INHALT:
Die Nachbarn machen sich Sorgen um Familie Mohn. Die Mutter der Familie ist verstorben und nun vermutet das Umfeld, dass sie die Trauerarbeit "verschleppen".
Beim Leichenschmaus gab es eine Tortenschlacht. Und wer weiß, was sie mit der Urne angestellt haben. So kann es doch nicht weitergehen!!??
Zum Glück gibt es da den Herrn vom Traueramt, der der Familie auf der Spur bleibt ...
Der Vater ist oft nicht da. Der 20-jährige Student Steve ist wieder nach Hause gekommen, er versucht, mit nach dem Rechten zu sehen. Doch das ist leichter gesagt, als getan.
Linn, 12 Jahre, hat seit dem Todesfall keine einzige Träne vergossen. Lieber prügelt sie sich regelmäßig auf dem Schulhof und lebt dabei ihre ganze Wut aus. Niemand scheint genau zu wissen, was in ihr vorgeht.
Und der 11-jährige Micha ist zu hilfsbereit für diese Welt, versenkt seine Kindheit im Farbeimer und versucht, seinen Kummer zu ertränken.
Gemeinsam vertilgen sie die Papierseiten aus den Tagebüchern der Mutter. So können sie ihr nahe sein.
Und sie füllen leere Bücher mit Geschichten über die Mutter, die so vielleicht niemals stattgefunden haben…
"Gern möchte er ein paar Seiten des Notizbuches füllen, um ein neues Leben für Johanne zu schneidern. Sich ihr nahe fühlen, indem er sich vorstellt, wie sie handeln, sprechen, schauen würde. Indem er sie Abenteuer bestehen ließe, ihrem ureigensten Wesen Gelegenheit gäbe, zu staunen, zu wagen und zu siegen. Er wünscht es sich sehr."
MEINUNG:
Das mit der Trauer ist ja so eine Sache. Jeder trauert anders. Genau wie in der Familie Mohn.
Doch was, wenn das Umfeld meint, es besser zu wissen? Wenn es genauer Vorstellungen davon hat, wie getrauert werden sollte!?
Kann uns die Gesellschaft vorschreiben, wie wir zu trauern haben?
Familie Mohn ist jedenfalls nur noch genervt davon. Alle Nachbarn müssen sich ungefragt einmischen. Man scheint sie nun genauestens zu beobachten! Sie verfolgen jeden Schritt und am liebsten auch noch jedes Wort, das in der Wohnung gesprochen wird.
Verständnis, inneren Frieden und heilende Worte erhalten sie letztendlich aus ganz unerwarteter Richtung ...
Die facettenreiche Bearbeitung des Themas "Trauerbewältigung" finde ich hier sehr gelungen umgesetzt.
Ich habe das Buch u. a. als eine Art Appell an die Gesellschaft verstanden: Wir haben nicht zu entscheiden, wie ein Mensch trauert, denn das ist persönlich und individuell. Aber manchmal finden Trauernde ganz unerwartet Herzensmenschen, mit denen der Schmerz etwas erträglicher werden kann!
Neben der Thematik hat mich Stefanie vor Schulte vor allem mit ihrem atemberaubenden Schreibstil überzeugt! Wie kann man nur so wunderschöne Worte für alles finden, die gleichzeitig so viele Symbole und Metaphern in sich tragen!? Da wird der Inhalt schon beinahe zur Nebensache, weil man so gern zwischen den Zeilen verweilt und manche auch mehrmals liest.
Wie schon bei "Junge mit schwarzem Hahn", beinhaltet der Text hin und wieder Stellen mit einer Prise unterschwelligem Humor, was mir erneut gut gefallen hat. Es ist vielleicht ab und zu etwas melancholisch, aber nicht besonders traurig – das mochte ich sehr.
Das vorherige Buch hatte märchenhafte Züge. "Schlangen im Garten" hält auch einiges an Fiktion bereit, was sich nicht immer ganz von der Realität abgrenzen lässt und viel Spielraum für eigene Interpretationen bietet. Dies war mir gegen Ende vielleicht ein bisschen zu viel, hat aber gut zur Thematik gepasst.
Ansonsten lassen die beiden Bücher sich kaum vergleichen. Ihr vorheriges Werk spielt in historischem Setting, dieses hier in der Gegenwart.
Aber etwas haben sie noch gemeinsam: Sie haben mir beide wirklich gut gefallen!
FAZIT: Erneut begeistert Stefanie vor Schulte mit außergewöhnlicher, großartiger Schreibkunst. Sie schreibt über die Facetten von Trauer und deren Bewältigung, ohne allzu bedrückend zu stimmen. Realität verwebt sie mit Fiktion und lässt Spielraum für eigene Interpretation. Große Empfehlung! 4,5/5 Sterne!