Umstrittenes Spätwerk mit großen Qualitäten
Doyles bereits im Erscheinungsjahr 1926 auf deutsch übersetztes und jetzt in korrigierter Fassung neu aufgelegtes Nebelland (The Land of Mist) bereitete Freunden wie Biografen des Autors Kopfzerbrechen. Der bedeutende und bedeutend erfolgreiche Erzähler und vormalige Arzt bekannte sich mittlerweile offensiv zum Spiritismus und versuchte, seine Leser erstmals auch in einem Roman zu missionieren, zulasten des Niveaus.
Der gescheite Erfinder des gescheitesten Detektivs der Weltliteratur – geben wir doch endlich die Dimension von Doyles Schriftstellergaben zu! - habe wohl seine Denkkraft eingebüßt, womöglich als Tribut an das Alter (mit 66 galt er als nicht mehr ganz jung). Aus einem scharfsinnigen Denker sei ein gutgläubig verführbarer Greis und intellektuelles Leichtgewicht geworden.
Mit Vorurteilen dieser Art ging auch ich zunächst an die Lektüre heran – und wurde kraß eines besseren belehrt! Bereits darin, wie Doyle die gegen das Buch und seine spiritistischen Aussagen erhobenen Vorwürfe vorwegnehmend diskutiert, zeigt sich das bekannte Feuer, die Frische und, wenn auch ein wenig zurückgenommener, der Humor. Das Buch entlarvt mitreißend wie ein Lavastrom den Umgang von Journalisten, aber auch der akademischen Elite und der Justiz mit Informationen, die ihr nicht ins Konzept passen, und pointiert eine in der Substanz völlig unverbrauchte Satire auch heutiger Medien und Bildungsanstalten.
Man unterschätzt das Potential des von Olaf Spittel als inzwischen 36. Band seiner Doyle-Reihe herausgegebenen Werks völlig, wenn man es auf seine Aussagen zum Spiritismus festlegt und verengt. Es hieße, genau den Tricks, der Effekthascherei und der Oberflächlichkeit auf den Leim zu gehen, die es so überzeugend angreift. Denktabus und vorgefertigte Klischees werden unter dem Scheinsiegel wissenschaftlicher Sauberkeit auch heute noch immer wieder benutzt, um Interessen zu stützen, Gleichklang zu erzwingen, Eigeninitiative zu blockieren und Existenzen zu zerstören.
Mehrfach geht der studierte Mediziner Doyle wiederholt – selbstkritisch? - mit einer Haltung ins Gericht, die, im Sinne einer Redensart und Molières, lieber den Patienten vom Arzt umbringen als von einem Unberufenen kurieren läßt.
Da wird eine verzweifelte Witwe und Mutter dreier Kinder durch die Ratschläge eines „Geistes“ ins Leben zurückgeführt (Kap. 6), der Überbringer aber wegen Formverstoßes laut britischem Recht (akribisch von Doyle dargelegt) zu Haftstrafe verurteilt (7). Da tun zwei schwer mißhandelte Geschwister, 10- und 8jährig, aufgrund einer „Eingebung“ das rettend Richtige, indem sie die elterliche Wohnung verlassen, ehe es zu spät ist (11). Da erlangt ein medizinisch aufgegebener MS-Patient infolge von „Botschaften“ und deren Umsetzung vollständige Genesung (14 ff.).
Die Kapitel, in denen Eigenbeobachtung aus spiritistischen Sitzungen, fremde Quellen, aber auch einige Betrugsfälle zitiert werden, leiden stellenweise unter mangelnder epischer Distanz. Varietee lasse ich mir gern gefallen, aber für einige „ektoplasmischen Materialisationen“ hätte ein stärkerer Filter gutgetan. Abweichend vom Gewohnten mischt sich Doyle hier mit bekennerhaften Eigenkommentaren ein. Das ist aber bitte nicht zu verwechseln mit verminderter Zurechnungsfähigkeit. Bis auf diese Passagen im dritten Viertel unmittelbar vor der umso ergreifender erzählten Kindesmißhandlungsepisode in Londons Proletarierviertel ist es ein packendes Buch, von dem eine große Sogwirkung ausgeht.
Ob der Arzt Doyle wußte, daß Zeitgenossen wie Gerson, Bircher-Benner, Brauchle, Eppinger, aber auch einige Therapeuten ohne akademische Weihen, mit Methoden des „Mediums“ von Kapitel 14 durchschlagende Heilerfolge bei sogenannt unheilbar Kranken dokumentieren konnten? Die Heilung führt der Roman anders als sie hauptsächlich auf „geistige Einflüsse“ zurück, nennt aber die entscheidenden Grundlagen immerhin beiläufig (S. 219): „Was ihr Modernen eine Hungerkur nennt, würde nicht übel sein.“
Das erinnert an den Onkologen, der eine schulmedizinisch aufgegebene Patientin mit Peritonealkanzerose vor 2 ½ Jahren geradezu anpflaumte, was ihr einfiele, eine „Hungerdiät“ anzufangen. Sie zog unter Anleitung meiner Frau die Ernährungsumstellung nach den obengenannten Forschern durch und erreicht demnächst vital die 80. Neulich beglückwünschte der Arzt die alte Dame zu ihrer Entscheidung damals und stellte infrage, ob die Medizin die Patienten noch länger mit Chemotherapien quälen dürfe. Doyles „Geistheiler“ kennt darüber hinaus die enge Verbindung zwischen Darmtätigkeit, Erkrankung und Hautbeschaffenheit.
Gibt die rührende Domestizierung des aufbrausenden Challenger (dt. „Herausforderer“) und Wandlung zu einem menschenfreundlichen, ergebnisoffenen Forscher, verbunden mit einem höchst aufschlußreichen persönlichen „Offenbarungsfall“ (im Zusammenhang mit einer in den anderen Challenger-Romanen allerdings verschwiegenen Anfangskarriere als Arzt), nicht eine klassische Parabel ab? Stehen Alternativen zur heutigen Sackgassenmedizin, ungeachtet harter Fakten, nicht ähnlich auf dem Abstellgleis wie, sagen wir, der US-Politik unliebsame Faktenanalysen kriegerischer Konfliktherde, Forderungen nach Eindämmung der Bankenwillkür oder eben, in Doyles Lesart, der Spiritismus?
Die Bereiche sind austauschbar. Man muß, ja sollte den Roman nicht auf der beschränkten Folie eines schwer zu beurteilenden Phänomens vergangener Epochen lesen.