Phantastisches Szenario
Odile Ozanne lebt mit ihrer Mutter in einem Tal, das mit Stacheldraht und Wachtürmen gesichert ist. Im Nachbartal im Osten leben dieselben Bewohner, jedoch zwanzig Jahre später und im Westen leben sie zwanzig Jahre zuvor. Die Stadt und das Tal, in dem Odile lebt, gleichen exakt den Städten und Nachbartälern Ost und West.
Die Frage drängt sich auf: Was wäre, wenn ich noch einmal von vorne anfangen, zwanzig Jahre zurückgehen oder ich in die Zukunft schauen könnte, ich wissen möchte, wie ich in zwanzig Jahren lebe? Scott Alexander Howard hat sich diesen Fragen gestellt.
Die sechzehnjährige Odile steckt mitten in den Prüfungen. Nur die Besten schaffen es, für das Conseil zu arbeiten. Die Conseiller sind die Bewahrer des Lebens, sie bearbeiten die Anträge der Menschen mit dem Wunsch, in das Tal der Vergangenheit oder in das andere Tal, in das der Zukunft, reisen zu dürfen. Die Täler sind mit meterhohem Stacheldraht geschützt, schon ein Anfassen löst aggressiven Alarm aus, was den sofortigen Einsatz der Gendarmen zur Folge hat. Noch weiß die Sechzehnjährige nichts von diesem Grenzschutz, sie verbringt ihre freie Zeit mit ihren Freunden, der schüchterne Edme ist ihr besonders nah. Bis eines Tages ein Unglück geschieht.
„Es war seltsam, ausgerechnet heute an Edme erinnert zu werden. Es war das Jahr, in dem ich sechsunddreißig und sechsundfünfzig und sechzehn wurde.“
Könnte man das Leben anhalten, auf die andere Seite gehen, es nochmal von vorne anfangen? Die Vorstellung ist so hoffnungsvoll wie gruselig. Kann man im Nachhinein Dinge beeinflussen? Ein Ereignis ungeschehen machen? Gar dem Schicksal ins Handwerk pfuschen? Dieses Gedankenspiel rund um Zeiten und Zeitreisen ist faszinierend, trotzdem ist es schwer zu fassen. Ein unbedachter Augenblick und nichts ist mehr so, wie es war, wie es sein sollte. Da wäre es doch wunderbar, das Rad der Zeit zurückzudrehen und diesen einen Moment neu zu leben, anders zu agieren.
„Das andere Tal“ ist kein Buch zum Nebenbeilesen. Nein, auf dieses Buch sollte man sich einlassen. Es ist in zwei Teile gegliedert, zunächst ist es die sechzehnjährige Odile mitsamt ihrem Umfeld, später dann ist sie als Erwachsene im Arbeitsleben, das ausführlich durchleuchtet und durchlebt wird. Beide Teile offenbaren eine Welt, in der die Bewohner gut leben können, die aber von Zwängen und Vorschriften durchsetzt ist. Odile war mir nah und unnahbar zugleich, sie strahlt als Mädchen mehr Wärme aus, im Berufsleben wirkt sie eher distanziert, kühl und angepasst. Das Szenario ist dem Thema entsprechend nicht immer rational fassbar und doch faszinierend, das außergewöhnliche Gedankenexperiment dennoch gut nachvollziehbar umgesetzt. Scott Alexander Howards Debütroman wird mich noch lange beschäftigen, er wird im Gedächtnis bleiben.