Nach 10 Jahren Koma erwachen in einer neuen Zeit
"Du weißt ja, in welchem Land du lebst. Hier sind schon die nichts wert, die gesund sind und am Leben sind, von Menschen im Koma ganz zu schweigen." (Buchauszug)
Franzisk (Zisk) steht kurz vor dem Ende seines Studiums. Er liebt das Leben übt jedoch gerne auch Kritik an der Politik seiner Heimat. Doch eigentlich sollte er eher Cello üben, um nachher eine gute Anstellung zu bekommen. Eines Abends wartet er bei der U-Bahn auf Freundin Nastja mit der er zu einem Rockkonzert möchte. Doch an diesem Abend geschieht das Unglück, bei dem Zisk schwer verletzt und ins Koma fällt. Jedoch, selbst wenn ihn die Ärzte, Mutter, Freunde und Nastja aufgeben, seine Großmutter ist sich sicher, das Zisk wieder aufwachen wird. Allerdings werden zehn lange Jahre ins Land ziehen, ehe er wieder seine Augen öffnet. Bis zu dieser Zeit versucht seine Großmutter alles Menschenmögliche für ihn. Dass sich in der Zeit allerdings vieles in Minsk verändert hat, merkt er erst später. Zisk muss nun seinen Platz in der Gesellschaft neu wiederfinden.
Meine Meinung:
Sasha Filipenko zeigt in seinem zweiten Roman anhand des Schicksals von Franzisk das Leben und die politische Lage in Weißrussland (Belarus) auf. Viele Jahre lang wurde dieses Land von der Sowjetunion beherrscht, um danach erneut in einer Diktatur zu enden. Der Autor beschreibt es sogar so: "Sein Heimatland hat viele Jahre in einem lethargischen Schlaf gesteckt, ehe es 2020 endlich aufgewacht ist." Dabei hat ihnen nicht nur die diktatorische russische Politik im Laufe dieser Zeit geschadet, sondern ebenso die der nachfolgende Weißrusslands. Ihre Diktatur ändert sich nämlich 1991 nicht mit der Selbstständigkeit. Gerade diese Politik wird hier in dem Buch recht deutlich aufgezeigt und das allen Kritikern zum Trotz. Dass die alte Diktatur Lukaschenko mit der jetzigen Generation nicht mehr zurechtkommt, kann ich gut verstehen. Das jedoch viele Seiten seines Buchs, das er 2014 geschrieben hat, später Wirklichkeit werden, damit hatte selbst Filipenko nicht gerechnet. Der tragische Unfall bzw. die Massenpanik in der U-Bahnstation, bei der Franzisk im Koma landet, gab es wirklich. 1999 kam es nämlich nachdem Ende eines Rockkonzerts in Minsk wirklich zu einer Massenpanik. Insgesamt wurden dabei 54 Menschen getötet, darunter vor allem viele junge Frauen unter 17 Jahren. Filipenko nimmt selbst hier kein Blatt vor den Mund. Er schildert dieses Ereignis wirklich so dramatisch und realistisch, sodass ich dachte, ich bin mittendrin in dem Geschehen. Und er klagt sogar die Verantwortlichen an. Was die politische Lage Weißrusslands anbelangt, war ich teils etwas überfordert, da ich zu wenig über dieses Land wusste. Doch dank dieses Buchs verstehe ich nun deutlich mehr über die Zusammenhänge und die Diktatur Weißrusslands. Mir scheint, dass sich in diesem Land auch nach der Selbstständigkeit politisch nicht viel geändert hat. Zisk spürt wie die Frustration und Resignation in seinem Land zugenommen haben. 2020 kommt es dann jedoch zu Protesten und Streiks, bei denen es zu über 6700 Verhaftungen gab und die ebenfalls hier sehr detailliert beschrieben werden. Weißrussland gilt weiterhin nach Russland als das Land, in dem man die sowjetische Vergangenheit am deutlichsten spürt. Das Filipenko mit seinem Buch bei einigen aneckt, kann ich gut nachvollziehen. Nachdem ich es jetzt gelesen habe, begreife ich, warum er die Zustände Belarus sich hier von der Seele schreiben wollte. Sprachlich jedoch hat mich nicht alles überzeugt. Gar nicht zugesagt haben mir die harten, teils ordinären Aussprüche und die lieblose Mutter, die von ihrem Sohn gar nichts wissen wollte. Unrealistisch empfand ich, dass die Ärzte einen selbstständig atmenden Patienten am liebsten aufgegeben hätten. Wäre da nicht eine so tolle Großmutter gewesen, die täglich für ihren Enkel kämpft, hätte Zisk das nicht überlebt. Fragwürdig finde ich außerdem, das Zisk nach seinem Erwachen aus dem Koma innerhalb 6 Monaten alles wieder erlernt hat. Deshalb gebe ich diesem Buch 4 von 5 Sterne.