Unsympathische Hauptfigur, aber interessante Vorfahrinnen
In ihrem Debütroman „Die Summe unserer Teile“ entwirft die Mathematikerin Paola Lopez eine interessante Familiendynamik zwischen den Frauen einer polnisch-libanesisch-deutschen Familie. Da ist die 23jährige Informatik-Studentin Lucy, die vor drei Jahren von München nach Berlin zog und damit den Kontakt zu ihrer Mutter Daria abbrach. Daria ist 1976 aus dem Libanon nach München gekommen, um dort Medizin zu studieren, aber auch sie brach den Kontakt zu ihrer Mutter Lyudmila früh ab, als sie in Deutschland ihren eigenen Weg mit ihrer neu gegründeten Familie gehen wollte. Und damit kommen wir in der Großelterngeneration von Lucy an. Ihre Großmutter Lyudmila floh im Laufe des Zweiten Weltkrieges aus Polen in den Libanon, nach Beirut, damals das Paris des Ostens, um dort Chemie zu studieren und ihren zukünftigen Ehemann, Professor Haddad kennenzulernen.
Den drei Frauen folgen wir in ganz unterschiedlichen Zeiten, die von 1944 bis 2014 reichen. Durch die Zeit- und Ortssprünge, die zu Beginn eines jeden Kapitels angekündigt werden, lernen wir nicht nur die einzelnen Lebensgeschichten der Frauen dieser Familie kennen, wir verstehen auch immer besser, wie es zu der angespannten Dynamik zwischen ihnen hat kommen können. Prägende Lebensereignisse bis hin zu Traumata verknüpft die Autorin geschickt miteinander, sodass man zum Ende des Buches hin das Puzzle der Familie immer besser zusammensetzen kann.
Sprachlich macht dies die Autorin sehr solide, allerdings begeht sie meines Erachtens einen Fehler bei den Lucy-Kapiteln. Alle Kapitel sind in personaler Erzählstimme verfasst und folgen dann jeweils entweder Lucy, Daria oder Lyudmila. Man merkt den verschiedenen Kapiteln durchaus unterschiedliche Töne an, die sich an den Stil der jeweiligen Person anpassen. Lucy, die wir gleich zu Beginn mit ihrem Konflikt in 2014 kennenlernen und die uns bis zum Schluss begleitet, wird dadurch automatisch zur Hauptperson des Romans. Ihre Handlung in 2014 erstreckt sich lediglich über wenige Wochen hinweg vom mysteriösen Erhalt eines Steinway-Konzertflügels in ihrer Berliner WG bis in die dadurch angestoßene Reise an die polnische Ostsee, um den Spuren ihrer Großmutter zu folgen. Ist die Erzählstimme zu den Lucy-Kapiteln in Berlin noch von Informatikbegriffen und -idiomen durchsetzt, was durchaus zu einer entsprechenden Studentin dieses Fachs passen kann, aber hier vielleicht einen Tacken zu viel von der Autorin genutzt wird. So verändert sich die Erzählstimme innerhalb von wenigen Tagen in Polen zu einer, der diese IT-Formulierungen vollkommen fehlen. Also nicht nur weniger werden, sondern einfach von jetzt auf gleich vollständig aus dem Romantext verschwinden. Gerade weil die Autorin in den ersten Lucy-Kapiteln so massiv um sich wirft mit den Begrifflichkeiten, erscheint es wenig authentisch, dass diese sich plötzlich komplett auflösen. Wie schon Lucys Großmutter feststellte: Es Stoff geht niemals verloren, er wandelt sich nur in andere Aggregatzustände oder verbindet sich zu neuen Stoffen. Vielleicht ist die Informatikerinnen-Persönlichkeit von Lucy ja von einen auf den anderen Tag verpufft. Ich weiß es nicht. Gefühlt gibt es auch das ein oder andere Plothole und der Zusammenhang zwischen Cover und der erzählten Geschichte des Romans wird mir nicht klar.
Ein weiteres Problem habe ich noch mit Lucy. Diese ist meines Erachtens unglaublich unsympathisch, aber nicht auf eine gewollte Art und Weise. Sie ist mit Anfang 20 äußerst neurotisch und selbstzentriert. Angeblich soll sie als Kind ganz handzahm und ausgeglichen gewesen sein, so der Eindruck ihrer Mutter. Als Erwachsene ist sie dies jedenfalls nicht mehr, was man durchaus als harten, rebellischen Akt gegen ihre Mutter interpretieren könnte. Aber in der Regel ändert sich ein Mensch nicht so grundlegend, sondern nur in der Ausprägungsstärke eines Charakterzugs. Die junge Lucy hätte mich wahrscheinlich nicht so massiv genervt wie die erwachsene. Für mich sind einige ihrer Entscheidungen nicht nachvollziehbar abgebildet im Roman, was die Figur an sich für mich zur am schwächsten Entworfenen unter den drei Frauenfiguren macht.
Insgesamt ein durchaus interessanter Roman, der einmal ganz neue Blickwinkel, Zeiten und Regionen einbaut. Ich habe das Buch nicht ungern gelesen und es liest sich schön fluffig weg.
3/5 Sterne