Schwer zu ertragen: Wenn Bücher darauf aus sind, Wertesysteme auszuhebeln
Durch die Analyse der Werke des Marquis de Sade entstand der Begriff des Sadismus, der Demütigung und Folter von Menschen zur Befriedigung sexueller Begierden.
Bei denen am Ende des 18. Jahrhunderts entstandenen DIE 120 TAGE VON SODOM und DIE PHILOSOPHIE IM BOUDOIR handelt es sich genau genommen um zwei literarische Texte, die zusammengenommen rund 860 Seiten umfassen. Beide beschreiben die tabulosen Exzesse einer gut betuchten und gelangweilten Bourgeoisie während des Ausbruchs der französischen Revolution. Äußerst explizit und ungeschont berichtet der scheinbar irre Sade von Sexualpraktiken, die gesetzeswidrig sind und fast immer mit Unterwerfung, Vergewaltigung, Gewalt und gar Entstellung bzw. Tod einhergehen. Wer SALÒ, die filmische Adaption von Pier Paolo Pausolini, kennt oder nur von der weltweiten Zensurgeschichte dieses tief ins Mark schockierenden italienischen Streifens aus den 70ern gehört hat, weiß, worauf er sich bei diesem Doppel einlässt.
Der zweite Teil des Buches DIE PHILOSOPHIE IM BOUDOIR lässt sich eher mit einer pornographischen, weitaus deftigeren Version von Choderlos de Laclos' Briefroman GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN oder deren moderne Filmadaption EISKALTE ENGEL vergleichen, wenngleich das als Theaterstück Konzipierte nicht jegliche Finesse und Schönheit im Schreibstil des de Laclos innehat. Eigentlich ist die Schreibe genauso wie jene der 120 TAGE zweckdienlich, wenngleich gespickt mit vielen philosophischen Rechtfertigungen, um zur sexuellen Befreiung während der gerade stattfindenden Revolution aufzurufen. Zugegebenermaßen ist der zweite Teil lohnenswerter, dennoch mindestens ebenso skandalös wie DIE 120 TAGE, deren mehrere Akte umfassender Text trotz unfertiger Stellen schwer zu ertragen bzw. begreifen ist. Trotzdem bleiben gerade Frauen auch hier immer Lustobjekte, ihnen werden von Vornherein fast jegliche Rechte abgeschrieben und sie bleiben dem Mann untergeordnet.
Wahrlich verschriftlicht der Marquis de Sade mit DIE 120 TAGE VON SODOM und DIE PHILOSOPHIE IM BOUDOIR die dystopischen Eindrücke, welche man aus den Gemälden von Hieronymus Bosch gewinnt. Der uns beigebrachte elementare Grundsatz, das Gute möge stets über das Böse gewinnen, fehlt hier nicht bloß, sondern wird durch Marquis de Sade ins umgekehrte Verhältnis gesetzt, in welchem Mitgefühl, Nächstenliebe, Tugend, Gesetzestreue und nicht zuletzt der Glaube an eine höhere Instanz verteufelt werden um dem eigenen Temperament Platz zu machen, koste es, was es solle. Sade lässt Leser, die ein Wertesystem besitzen, mit unendlicher Unbequemlichkeit zurück. Man fragt sich ernsthaft, ob man diese Texte von Sade, der wohl nicht wegen irgendwelcher kleinen Delikte in der Bastille einsaß, überhaupt jemandem zumuten kann. Bücher solchen Schlages habe ich noch nie gelesen, gar durchgestanden. Es ist wohl der ewige Voyeurismus im Inneren, der mich diese zwei Werke hat durchlesen und nicht weglegen lassen. Schwer zu bewerten... Erfüllt der Marquis mit seinen wahnsinnigen Vorstellungen einer vollkommenen Welt nicht eher den Auftrag, an der Funktion von Gesetzen und Recht bzw. Gerechtigkeit im Allgemeinen festzuhalten? Zur Akklimatisierung gucke ich erstmal einen Disneyfilm...