Der Insektenmann
Jesse Berg fehlen ein paar Jahre in seiner Erinnerung. Er wuchs großteils im Heim auf, wo er auch seine jetzige Exfrau Sandra kennenlernte. Jesse liebt seine Tochter Isabelle über alles. Als er eines Tages zu spät zum vereinbarten Termin kommt, ist Sandra ermordet und seine Tochter entführt. Eine seltsame Nachricht bringt Jesse dazu, im Heim Adlershof nach der Wahrheit zu suchen. Eine Wahrheit, die weit entsetzlicher ist, als er je gedacht hätte …
Der Autor Marc Raabe hat einen Stil, der sich eingängig liest und den Leser direkt ins Geschehen wirft. Sofort nimmt er einen auf eine rasante Reise quer durch die Story und in diesem Fall auch von Berlin nach Garmisch-Partenkirchen, also quer durch die Republik. Der Schauplatz wird anschaulich, aber nicht zu ausufernd geschildert, sodass man das Gefühl hat, die genannten Orte auf Anhieb zu finden, wäre man gerade in Garmisch-Partenkirchen. Ich selbst habe mich dabei ertappt, dass ich mich immer wieder gefragt habe, ob ich an den realen Gebäuden der im Buch vorkommenden Orte vorbeigekommen bin, als ich in Garmisch-Partenkirchen Urlaub gemacht habe. Ich sah alles so genau vor mir – und dafür brauchte Raabe nur wenige Worte!
Die Protagonisten zeichnet der Autor mit nur wenigen Beschreibungen so klar, dass man sie bildlich vor Augen hat. Auch die „Bösen“ haben genug Charisma und Charme, dass man sie auf gewisse Weise mag. Die Fehler und Macken der Einzelnen sind so wirklichkeitsnah, dass sich das Buch fast so liest, als wäre alles tatsächlich geschehen. Jule, die beste Freundin der toten Exfrau von Jesse, hat es nicht leicht – soll sie dem glauben, was sie gesehen hat, oder dem, was Jesse ihr sagt? So kommt es auch, dass Jule immer wieder versehentlich das Falsche tut und der Leser sich die Haare rauft. Aber trotzdem hat man sie ins Herz geschlossen. Und ich möchte den Leser kennenlernen, der nicht auf Anhieb Fan der kleinen Isa ist!
Besonders gelungen sind die parallel laufenden Erzählstränge von Vergangenheit und Gegenwart (hier sind es gleich zwei: einmal Jesses Part und einmal der Part um Artur). Super gelöst auch, dass nicht nur Zeitangaben die Kapitel begleiten, sondern die Vergangenheits-Kapitel auch noch in kursiver Schrift besonders hervorgehoben werden.
Langsam, Stück für Stück, verwirrt Marc Raabe den Leser immer mehr, bis dann mit einem lauten Knall alles seinen Platz findet und die Auflösung einerseits völlig überraschend, andererseits aber auch komplett logisch über den Leser hereinbricht.
Die einzelnen Kapitel sind allesamt nicht übermäßig lang, eher kurz gehalten. Das allein führt schon dazu, dass man immer noch ein Stückchen lesen muss, ist ja nicht so viel und ein Kapitel passt noch – dazu die durchgehend vorhandene Spannung und der Zeitenwechsel, außerdem die häufigen kleinen Cliffhanger an den Kapitelenden. Am Ende hat man den Page-Turner mindestens doppelt so schnell gelesen, wie man dachte!
Marc Raabes Erstlingswerk „Schnitt“ hat mir schon gefallen. Damals fehlte ein Stückchen, um mich komplett happy zu machen und es gab deshalb dreieinhalb Sterne, auf vier Sterne aufgerundet. Raabe hat es diesmal geschafft, den Spannungsbogen von der ersten Seite an unglaublich hoch zu halten. Keine zähen Stellen, wie beim Erstling – grandios! Die Idee, der Plot – unfassbar gut und auch definitiv großartig umgesetzt! Alles, was ich also damals zu bemängeln hatte, ist diesmal um Längen besser. Das nenne ich Steigerung! Nur die letzten paar Seiten haben mich nicht ganz so mitreißen und begeistern können. Für meinen Geschmack fehlt da ein wenig, bleiben einige wichtige Dinge ungeklärt und bricht der Fluss zu krass ab. Aber das ist Gemecker auf hohem Niveau. Diesmal fehlt nur noch ein kleines Stückchen, um die fünf Sterne vollzumachen, aber auch diesmal runde ich auf, denn dieser Autor hat das verdient: fünf Sterne also! Und ich bin gespannt, ob sein nächstes Buch meine Sterneskala sprengen wird – zuzutrauen ist es Marc Raabe auf alle Fälle!
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