Ambitionierter Krimi mit Thriller-Elementen um eine brutale Mordserie im Berlin des Jahres 1939
Margarete Pohl, die Frau eines SS-Gruppenführers, wurde brutal ermordet und grausam verstümmelt aufgefunden. Vernachlässigt von ihrem Mann verbrachte sie ihre Tage mit Besuchen beim Friseur, mit Einkäufen und im Wilhelmclub. Dabei traf sie ihre Freundinnen zu Klatsch und Tratsch im Hotel Adlon. Zudem war sie seit zwei Jahren wegen ihrer Depression in Therapie bei Dr. Simon Kraus. Margarete fürchtete nur den Marmormann, wie sie ihrem Mann kurz vor ihrem Tod anvertraute. Doch Simon weiß aus seinen Sitzungen mit ihr, dass dieser Golem nur in ihren Träumen spukte. Weil Margarete nicht das erste Opfer ist und nachdem Max Wiener, Kriminalinspektor bei der Polizei, trotz der Suche nach Zeugen und Unterstützung durch das Kriminaltechnische Institut des Reichssicherheitshauptamts keine Fortschritte in diesem Fall erzielen konnte, übernimmt Hauptsturmführer Franz Beewen die Leitung in seiner ersten Mordermittlung.
Jean-Christophe Grangé gliedert seinen Thriller in historischem Setting, der im Berlin des Jahres 1939 angesiedelt ist, in fünf Teile. Diese bestehen aus Kapiteln von angenehmer Länge, die aus wechselnden Perspektiven geschildert sind. Dazu zählen die Sichtweise von Dr. Simon Kraus, der Psychiater, Gigolo und Erpresser ist, von Hauptsturmführer Franz Beewen, der die Mordserie aufzuklären hat, und Minna von Hassel, der Leiterin der Brangboer (Irren-)Anstalt.
Das Spezialgebiet von Simon, der als Psychoanalytiker tätig ist, sind die Träume und deren Deutung. Darüber hat er sogar seine Doktorarbeit verfasst. Simon hat eine schicke Praxis, die er seinen Beziehungen verdankt. Nach Enteignung der zuvor dort lebenden Juden konnte er kostenlos einziehen und behandelt da nun seine Patientinnen, die die Frauen hochrangiger Funktionäre oder einflussreicher Industrieller sind und deren Träume er analysiert. Heimlich zeichnet er diese Sitzungen auf und erpresst seine Patientinnen, wenn sie etwas Verfängliches über die politische Einstellung ihrer Männer äußern. Auf diese Weise finanziert Simon seinen luxuriösen Lebensstil.
Franz Beewen, der in Armut auf einem Bauernhof groß geworden ist, ist harte Arbeit gewohnt. Im ersten Weltkrieg ist sein Vater auf dem Schlachtfeld Gas ausgesetzt gewesen, wovon er sich nie wieder erholt hat, weswegen er in eine Anstalt eingewiesen werden musste. Nach diesen Schicksalsschlägen, die Beewen erlitten hat, ist er auf die schiefe Bahn geraten. Trotz seiner zwielichtigen Vergangenheit hat er sich seinen Werdegang erkämpft. Nun träumt er davon zur Wehrmacht versetzt zu werden, um im Einsatz an der Front seinen Vater auf dem Schlachtfeld zu rächen.
Baronin Minna von Hassel stammt aus einer der reichsten Familien Berlins. Sie ringt darum ihre Patienten in der Brangboer Anstalt zu versorgen, denen es an allem Notwendigen mangelt. Denn es sind nicht einmal genügend Nahrungsmittel vorhanden. Minna versucht sich an neuen Therapieformen, die mehr an Folter als an eine Behandlung erinnern. Und als Alkoholikerin gibt sie sich nicht nur in ihrer Freizeit ihrer Sucht hin.
Mit einem erpresserischen Gigolo, Junkie und Gestapo-Mann hat Jean-Christophe Grangé für seinen Thriller ein ungewöhnliches Trio an Hauptfiguren gefunden, deren ambivalente Charakterisierung mir gefallen hat. Und da der Autor die Perspektive, aus der die sich zutragenden Ereignisse geschildert werden, reihum wechselt, habe ich nicht nur die Gedankengänge von jedem der drei kennengelernt, sondern diesen zudem durch die Augen der anderen beiden erlebt. Ähnlich ambivalent wie die Charakterisierung der Figuren an sich ist auch deren komplexes Beziehungsgeflecht untereinander geraten. Dessen Entwicklung räumt der Autor die dafür erforderliche Zeit ein, weil Simon, Beewen und Minna sich erst mit ihrem tiefsitzenden Misstrauen den anderen gegenüber auseinanderzusetzen haben.
Jean-Christophe Grangé etabliert den politisch historischen Kontext seines Romans, indem er die bis 1939 relevanten Ereignisse darüber kurz anreißt, dass er Simon sein Leben der vergangenen Jahre rekapitulieren lässt. Dabei erinnert Simon sich daran, wo bzw. wie er die letzten bedeutsamen historischen Ereignisse erlebt hat. Auch hat Simons Spaziergang zu Beginn des Buchs das Berlin dieser Zeit vor meinem inneren Auge lebendig werden lassen. Dieser führt Simon von seiner Praxis über die Alte Potsdamer Straße und den Potsdamer Platz entlang der Wilhelmstraße bis zu seinem Ziel, das eine Luxusherberge am Wilhelmplatz ist. Dort trifft er eines der Opfer seiner Erpressungen. Dabei ist Simon erschlagen vom quirligen Gewusel der Menschenmengen und Lärm von Automobilen und Straßenbahnen am Potsdamer Platz, das im Kontrast zur so ruhigen wie düsteren Wilhelmstraße steht, in der die Regierung mit ihren Ministerien, Amtsgebäuden und Hauptquartieren residiert.
Vor dieser historischen Kulisse inszeniert Jean-Christophe Grangé eine Serie grausamer Ermordungen von schönen Frauen mächtiger Männer, deren verstümmelte Leichen an Jack The Ripper erinnern. Dabei kommt die Ermittlung in dieser Mordserie nur langsam voran, weil Beewen unerfahren in der Untersuchung von solchen Fällen ist und die Verstrickung seiner Co-Ermittler wie insbesondere deren Beziehung zu verschiedenen Opfern erst nach und nach enthüllt wird.
Zusätzlich zur politischen Stimmung, die durch den drohenden Krieg aufgeladen ist, behandelt Jean-Christophe Grangé weitere im historischen Kontext stehende Themen. Dazu gehören die Traumdeutung und Traumforschung, die Simons Leidenschaft ist, die Behandlung von im ersten Weltkrieg ob in körperlicher oder geistiger Hinsicht versehrten Soldaten, da die traumatisierten Überlebenden des Kriegs etwa in Minnas Klinik behandelt werden, zu denen Beewens Vater zählt, und die Beschreibung der in dieser Zeit gängigen Therapieformen (u.a. Elektroschocks, Hydrotherapie, Infektion mit Malaria), das Studio Babelsberg und die Filmwelt im Allgemeinen. Das sind bei weitem nicht alle Themen, die vom Autor in diesem Krimi-Thriller angerissen werden. Weitere möchte ich an dieser Stelle jedoch nicht vorweg nehmen, um nicht die sich dadurch ergebenden unerwarteten Richtungen, die dieses Buch im Zuge der Ermittlungen von Beewen einschlagen wird, zu verraten.
Insgesamt hat Jean-Christophe Grangé in seinem ambitionierten Roman zu viel auf einmal gewollt. Das lässt zwar die Handlung in seinem Buch die ein oder andere für mich gänzlich unerwartete Wendung nehmen. Spätestens aber mit dem dritten fundamentalen Twist, der diesem Krimi-Thriller eine Entwicklung gibt, die konträr zu seinem bisherigen Verlauf ist, ging mir das zulasten der Glaubwürdigkeit. Die zuvor eingeführten Verdächtigen, die sich letztlich als falsche Fährten entpuppt haben, habe ich da als weit stimmiger empfunden. Um schließlich seinen Täter und dessen Motiv zu verklausulieren, muss der Autor im letzten Teil dieses Buchs auf ausführliche Erklärungen und Argumentationshilfen zurückgreifen. Dennoch scheinen mir dessen finale Enthüllungen im Widerspruch zu Szenen zu stehen, die in den ersten beiden Teilen dieses Buchs geschildert wurden. Diesen Mangel an Plausibilität kaschiert der Autor durch immer extremere Gewaltexzesse, die in ihrer detaillierten Beschreibung unmenschlicher Grausamkeiten kaum zu überbieten sind.
Meiner Ansicht nach ist das Problem der marmornen Träume, dass Jean-Christophe Grangé zu viele seiner vielversprechenden Ansätze und interessanten Ideen in einer einzigen Kriminalgeschichte unterbringen wollte. Diese unterschiedlichen Elemente passen jedoch oft nicht so recht zueinander und wollen sich nicht zu einem stimmigen Ganzen zusammenfügen. Als gelungener hätte ich diesen Stoff empfunden, wenn der Autor diesen in einer Reihe von Kriminalfällen (u.a. in Anstalten für Geisteskranke, im Künstlermilieu, am Filmset) verarbeitet hätte, statt alles in eine einzige Mordermittlung packen zu wollen. Dabei hätten dann auch besser die Stärken der marmornen Träume zum Tragen kommen können, die mich zu Beginn dieses Romans überzeugt haben. Dazu zählen für mich die Beschreibung des historischen Settings, die brutalen Mordfälle an verschiedenen Schauplätze im Berlin des Jahres 1939 und das ambivalent gezeichnete Hauptfiguren Trio. Auch hätte ich mir gewünscht, dass der Autor seine Figuren nicht permanent gegen den Strich, sondern ihrer Charakterisierung entsprechend eingesetzt hätte. Dann hätte Beewen in Verfolgungsjagden und physischen Konfrontationen seine Präsenz ausspielen können, Simon wäre der geniale Psychoanalytiker wie Traumdeuter gewesen und Minna als Expertin für die Psyche von Serienmördern eine Vorgängerin der heutigen Profiler.