Das „Jahr ohne Sommer“ und seine Folgen
Nichts war mehr selbstverständlich. Sie waren auf einem neuen Weg, und es würde kein leichter sein. (Seite 404)
Meine Meinung
Es ist eine Weile her, daß ich das letzte Amisch-Buch gelesen habe. Und noch nie habe ich solch einen Roman gelesen, der in einem säkularen Verlag erschienen ist. Vor Lesebeginn war ich also doppelt gespannt: wie wird es sein, nach über fünf Jahren in die Welt der Amisch „zurückzukehren“ - und wie würde solch ein Roman aus einem „weltlichen“ Verlag sein?
Um es kurz zu machen: die „Rückkehr“ ist mehr als gelungen - und der Roman gehört sicherlich zu den besten Amisch-Romanen, die ich je gelesen habe. Obwohl (oder gerade weil?) er in einem säkularen Verlag erschienen ist.
Zunächst wird der Gegensatz der beiden Welten Ammanleit (wie sie seinerzeit in Deutschland genannt wurden) und „Weltliche“ deutlich, so bekommt man ein Gefühl für die Unterschiede und die Zeit, in der das Buch angesiedelt ist. Und die Zeit ist keine einfache; Napoleon wurde in der Schlacht von Waterloo endgültig besiegt und - was hierzulande damals niemand wußte - in Indonesien brach der Vulkan Tambora aus, was in weiten Teilen Europas zum „Jahr ohne Sommer“ führte.
Andreas Faber hat diesen Krieg mitgemacht und ist mit seiner Einheit auf den Heimweg. Unterwegs macht der ganze Trupp bei seinem Vater, der eine Mühle betreibt, Station. Als einer der Offiziere seine Schwester vergewaltigen will, greift Andreas ein und muß in der Folge fliehen. Denn da es ein Offizier war, ist es egal, weswegen Andreas ihn angegriffen hat - er hat auf jeden Fall schuld.
Unterwegs trifft er auf Daniel Hochleitner, der ihm zunächst seltsam vorkommt. Sie freunden sich an und stellen fest, daß sie ähnliche Geschichten haben: beide müssen von zuhause weg und in der Fremde ein neues Leben beginnen. So kommt es, daß Andreas dem Daniel über das Leben in der „normalen Welt“ erzählt und ihm Ratschläge gibt, während Daniel dem Andreas ein Empfehlungsschreiben seines Bischofs und seinen Namen gibt mit der Empfehlung, bei einer Täufergemeinde in der Nähe unterzuschlüpfen. Denn dort würde ihn sicher niemand suchen.
Und damit fängt die Geschichte dann eigentlich erst richtig an.
Die Amisch-Romane, die ich bisher gelesen habe, waren alle in der Jetztzeit angesiedelt. Zwar habe ich mich auch schon mit der Geschichte der Amisch beschäftigt, aber nie so richtig intensiv. Hier bietet das Buch gleichsam nebenbei noch eine Geschichtslektion, denn die Autorin gibt eine sehr gute Beschreibung, wie damals (soweit man das heute beurteilen kann) das Leben dieser Menschen war. Man erfährt von ihrer Art zu leben, ihrem Denken, aber auch von ihren Problemen mit der Umwelt, denn die Wiedertäufer, wie sie abfällig von anderen Menschen genannt wurden, wurden seit Jahrzehnten verfolgt; ohne mit der Wimper zu zucken belog und betrog man sie, wo man nur konnte. Und sie selbst als friedliebende Menschen, die Gewalt verabscheuten, ließen es sich gefallen.
Gleichzeitig waren sie keine Heiligen, auch bei ihnen menschelte es, gab es Neid, Mißgunst und andere allzu menschliche Regungen, die nicht unbedingt dem Idealbild, das sie selbst von sich hatten, entsprachen. All dies bringt die Autorin durch ihre Figurenführung und die Entwicklung der Handlung quasi nebenbei zum Vorschein, ohne daß dies irgendwo gewollt oder missionarisch wirkte. Hier wird nichts verherrlicht, verniedlicht oder Probleme unter den Tisch gekehrt. Ganz im Gegenteil.
Karin Seemayer entwirft das Bild einer Gemeinschaft, wie sie damals wirklich gewesen sein könnte. Mit Höhen und Tiefen, Freud und Leid und allem was dazwischen liegt. So hatte ich als Leser das Gefühl, mitten drin in der Handlung dabei zu sein. Für einige Zeit war ich tief eingetaucht in die Welt der Ammannleit der Jahre 1815 bis 1822, habe von „Jahr ohne Sommer“ gelesen und was das konkret für die Menschen (und nicht nur die Ammannleit!) bedeutet hat, wie dies sowohl das Beste als auch das Schlechteste aus den Menschen hervorbrachte. Und habe verstanden, wie dadurch eine der großen Auswanderungswellen nach Amerika ausgelöst wurde.
Am Ende angelangt, war ich hochzufrieden - empfand jedoch auch eine gewisse Wehmut, daß das Buch nun schon aus ist. Daniel, Rebekka und so manche andere waren mir ans Herz gewachsen und ich hatte das Gefühl, mich von guten Freunden verabschieden zu müssen. Sicher gibt es bald eine Fortsetzung, aber die spielt rund vierzig Jahre später - und wer weiß, wer von den Figuren dieses Buches dann noch am Leben ist?
Wie dem auch sei, diesen Roman habe ich ungemein gerne gelesen, ich werde nach anderen Büchern der Autorin Ausschau halten. Und freue mich, wenn es dann im November weiter geht mit dem „Himmel über Amerika.“
Mein Fazit
Eine außerordentlich gut erzählte Geschichte aus der Welt der Ammannleit, wie die Amisch seinerzeit in Deutschland hießen. Und eines der besten Amisch-Bücher, das ich je gelesen habe.