Bewegende Geschichte vom „Holodomor“ - Stalins absichtlich herbeigeführte Hungersnot
CN: Armut, Hungersnot, Mord, Tod, Verlust, Trauer, viele Leichen, Kannibalismus
„Die Trauer hatte sie so weit heruntergezogen, dass es ihr nicht gelungen war, wieder ganz aus diesem Loch herauszukommen. Jetzt war Melancholie ihr steter Begleiter, und das ließ keinen Raum für andere Gefühle. Sie hüllte sie voll und ganz ein, innerlich wie äußerlich, und lag ihr bitter auf der Zunge wie der Geschmack der Löwenzahnblätter, die ihr inzwischen so vertraut waren.“
INHALT:
Seit Henrys Unfall mit Todesfolge, versucht Cassie, so gut es geht, ihren Alltag zu bewältigen.
Ihre 5-jährige Tochter Birdie spricht seitdem kein einziges Wort mehr.
Sie beide ziehen zu Cassies Großmutter Bobby, um diese nach ihrem Krankenhausaufenthalt etwas unter die Arme zu greifen. Aber eigentlich unterstützen sie sich gegenseitig.
Zumindest blüht Birdie unter den Geschichten und gemeinsamen häuslichen Aktivitäten regelrecht auf.
Bobby selbst hat sich verändert. Immer öfter führt sie Selbstgespräche auf Ukrainisch und versteckt Lebensmittel. Auch der Name „Alina“ taucht immer wieder auf. Was hat es mit ihr auf sich?
Über ihre Vergangenheit hat die Großmutter nie gesprochen. Zu schmerzhaft sind die Erinnerungen an früher…
1929: Katja wächst behütet in einem Dorf nahe Kiew auf. Sie ist verliebt in Pawlo und dieser in sie. Auch die Schwester scheint ihr Glück gefunden zu haben.
Doch die Zeiten im Land ändern sich. Stalin möchte die Kollektivierung der Landwirtschaft vorantreiben. Denn das Land ist fruchtbar, die Ernte, vor allem Getreide soll exportiert werden.
Die Bolschewiken marschieren ein und werben zunächst dafür, sich der Kolchose (landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft) anzuschließen. Doch sie rufen auch dazu auf, die Kulaken (selbständige Bauern, die sich nicht dem Kollektiv anschließen & scheinbar etwas mehr Geld haben) zu vernichten.
Plötzlich werden Menschen, die sich dem System gegenüber negativ äußern, verschleppt oder erschossen. Abgaben müssen erfolgen. Immer mehr Menschen werden nach Sibirien deportiert.
Die anderen werden enteignet, der Besitz wird verstaatlicht und sie alle müssen hart arbeiten und haben kaum zu essen. Immer mehr Menschen sterben.
Es ist der Beginn einer großen Hungersnot, welche in der Geschichte der Ukraine noch lange verschwiegen und verleugnet werden soll…
MEINUNG:
Es fällt mir nicht leicht, dieses Buch zu bewerten. Denn ja, es gab ein paar Dinge, die mir weniger gefallen haben, zumindest im Zeitstrang der Gegenwart, welcher sich rund um Cassie dreht. Da ging es mir anfangs alles ein bisschen zu schnell, die Handlung wirkte auf mich etwas zu platt, die Protagonistin hatte wenig Ecken und Kanten und die Liebesgeschichte war sehr vorhersehbar und ein bisschen kitschig.
Doch mit der Zeit, als Cassie sich immer mehr mit der Geschichte ihrer Großmutter befasste, gewann sie etwas mehr an Tiefe und ich habe zumindest ihre Recherchen mit Interesse verfolgt.
Nun aber zu dem Punkt, welcher ungemein für das Buch spricht:
Habt ihr schon einmal vom „Holodomor“ gehört? Übersetzt bedeutet der Begriff „Tötung durch Hunger“ und meint eine große Hungersnot von 1932 bis 1933 in der Sowjetukraine. Diese wurde absichtlich dadurch herbeigeführt, dass Stalin die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft veranlasste und die Bauern enteignete. Wer Widerstand leistete, hatte kaum eine Chance zu überleben. Viele Menschen wurden deportiert oder gleich umgebracht.
Die Nahrungsmittel wurden alle exportiert, bis die Leute selbst nichts mehr zu essen hatten. Daran starben in der Ukraine etwa 4 Mio. Menschen. Die Leute waren verzweifelt, es kam manchmal sogar zum Kannibalismus.
Lange wurde diese Hungersnot verschwiegen (laut Internet bis zur Spätzeit der Sowjetunion Ende der 1980er-Jahre!), selbst in den Medien; die Leute hatten Angst vor den Folgen, andere verleugneten sie komplett.
Stalin hat die Kollektivierung anscheinend gut verkaufen können. „Niemand wollte glauben, dass der, Brotkorb Europas‘ ausgehungert wurde.“
Walter Duranty von der „New York Times“ beispielsweise bekam sogar den Pulitzerpreis, für seine stalinismusfreundliche Berichterstattung zu diesem Thema.
Schrecklich, was damals geschehen ist, welches Leid damit verbunden war und wie viele dem zum Opfer gefallen sind. Und umso schlimmer ist es, dass den Ukrainern aktuell erneut so vieles genommen und so viel Leid zugefügt wird…
Immer wieder habe ich mir manche Begriffe und Hintergründe der politischen Lage dazu online genauer angeschaut und habe manches dazugelernt.
Den Vergangenheitsteil im Buch, mit der Geschichte um Katja, fand ich unglaublich bewegend und eindrücklich. So viele Tote. Überall Leichen. So viel Hunger. So viel Kälte. Das war nicht einfach zu lesen. Und doch fand ich es so wichtig und wertvoll, mich mit den damaligen Ereignissen und der politischen Situation auseinanderzusetzen! Auch um die aktuelle Situation im Land nochmals aus einem anderen Blickwinkel zu sehen…
Man erkennt wieder, wie dankbar man sein kann, für das, was man hat...
Die Stimmung im Buch ist durch die Thematik überwiegend bedrückend. Ich war schon etwas erschrocken, wie vielen Leichen allein Katja begegnete.
Vielleicht war es daher gar nicht so schlecht, dass der Gegenwartsstrang so viel lockerer war und es da den einen oder anderen sehr unwahrscheinlichen positiven Zufall gab...
FAZIT: Auch wenn mir der Gegenwartsstrang etwas zu flach blieb, konnte mich die Geschichte um Katja in den 1930ern unglaublich für sich einnehmen. Sie hat mir eindrücklich gezeigt, wie schrecklich der „Holodomor“ - die große, von Stalin bewusst herbeigeführte Hungersnot in der Sowjetukraine – war. Ich bin froh, das Buch gelesen zu haben, um etwas über diesen historischen Aspekt der Ukraine zu erfahren, welcher lange verschwiegen und verleugnet wurde. Das Schicksal der Ukrainer wirkt nach dem Lesen noch lange in einem nach… 4-4,5/5 Sterne.