Das Geschwür Rassismus
Ein kurz gefasster Entschluss, der den Verlauf des weiteren Lebens für immer verändert.
Der sechzehnjährige Elwood erhält einen Studienplatz. Doch als er ahnungslos in den Wagen eines Autodiebes einsteigt, nimmt sein Leben eine unumkehrbare Wendung und führt ihn geradewegs in das Nickel, eine sogenannte Besserungsanstalt für auffällig gewordene Jugendliche, die dort körperlich und geistig ‚erzogen‘ werden sollen. Colson Whiteheads neuer Roman „Die Nickel Boys“ erzählt vom systematischen Missbrauch von Jugendlichen – nach wahren Begebenheiten, die erstmals 2014 aufgedeckt wurden.
Als der junge Elwood unschuldig verhaftet wird und im Nickel landet, erkennt er nicht sofort die wahre Bedrohung, die seinen Alltag von nun an bestimmen wird, da er sich auf einem auf den ersten Blick vielversprechenden Gelände ohne Zäune wiederfindet, auf dem es auch eine Schule gibt. Denn Elwood ist ein wissbegieriger junger Mann mit großen Zielen, der bereit ist, dafür hart zu arbeiten, um es einmal besser als seine Großmutter zu haben, bei der er lebt, seitdem seine Eltern ihn verlassen haben. Er wächst im farbigen Stadtteil von Tallahassee im Florida der sechziger Jahre auf und verfolgt aufmerksam die Rassendiskriminierungen und Proteste im Land, von deren Ausgang er sich eine freie Zukunft erhofft, in der er endlich den Fun Town Park besuchen und sitzen und essen darf, wo es ihm beliebt. Vorbilder findet er in Dr. Martin Luther King und seinem engagierten High School Lehrer.
Dass Elwood im Nickel die Hölle auf Erden erwartet, wird ihm bereits kurze Zeit nach seiner Ankunft gezeigt. Whiteheads unverkleidete, nüchterne Sprache und unpathetische Erzählweise ohne Ausschmückungen lassen die Schrecken umso drastischer erscheinen in all ihrer Schonungslosigkeit, die der Gewalt im Nickel gerecht werden und beim Lesen in regelmäßigen Abständen für einen gewaltigen Knoten im Hals sorgen, der sich einfach nicht lösen will. Seltsames nächtliches Dröhnen und Schreie, willkürliche Strafen der rassistischen weißen Angestellten und verzweifelte Fluchtpläne bestimmen im Nickel die Tage und die Nächte. In dieser Zeit wird der junge Turner zu Elwoods Verbündetem und Vertrautem.
Der Roman ist in drei Abschnitte gegliedert: Im ersten lernen wir Elwood und die Hintergründe seiner Geschichte kennen, im zweiten Teil wird das Nickel und dessen Zerstörungsmaschinerie bis in seine dunkelsten Winkel beleuchtet und der dritte zeigt uns Elwood Jahre später als Erwachsenen, der sich mittlerweile in New York eine Existenz aufgebaut hat, aber das Vergangene nicht vergessen kann.
Die Handlung ist zwar fiktionalisiert, basiert jedoch auf Fakten: Als 2014 ein Grundstück nahe der geschlossenen Jugendanstalt bebaut werden sollte, fanden Archäologiestudenten aus Tampa im Zuge von Exhumierungen auf dem ehemaligen Anstaltsfriedhof des Nickel heraus, dass es noch einen weiteren „Friedhof“ gab, der jedoch als solcher nie gekennzeichnet war und vielmehr ein tiefer Graben war, in dem dutzende Leichname anonym vergraben wurden. Die Überreste wiesen Knochenbrüche, Einschüsse und weitere Spuren von Folter auf und sind somit der Beweis für das, was jahrzehntelang von Überlebenden behauptet, aber einfach nicht gehört wurde: Das Nickel war eine reine Folterstätte, die ihre Spuren verwischte, indem sie ihre Gewaltopfer klammheimlich vergrub, ohne die Angehörigen davon in Kenntnis zu setzen.
Macht und deren Missbrauch im Rahmen der Rassenunruhen im Amerika der sechziger Jahre sind die Themen, die die Handlung selbst bis in die kleinste Nebenhandlung hinein dominieren. Schutzbefohlene werden im Nickel systematisch gebrochen und staatliche Behörden schauen weg. Colson Whitehead drückt den Finger auf genau die Stellen, die am meisten wehtun und bis heute nicht verheilt sind, weil sie immer wieder aufreißen. Black Beauty, das Weiße Haus und ein riesiger Ventilator sind Mittel bzw. Orte eben dieser Zerstörungsmechanismen, die einen jungen menschlichen Charakter am kritischsten Punkt aufgreifen und brechen. Das Nickel zerstört willkürlich das Potenzial, das in seinen Schützlingen schlummert. In eben dieser Entwicklungsphase wird Elwood wiederholt mit seinen eigenen Moralvorstellungen konfrontiert, die er immer öfter infrage stellt, wenn er über sein Idol Martin Luther King und dessen Äußerungen zu Rassismus und Vergebung nachdenkt und versucht, diese auf seine schwierige Situation zu übertragen. Elwood ist ein starker, wenn auch oft mit sich hadernder Charakter, der in all dem Leid verzweifelt einen tieferen Sinn zu erkennen versucht.
„Ihre Daddys brachten ihnen bei, wie man einen Sklaven spuren ließ, sie gaben das brutale Erbe weiter.“ Whiteheads Buch gibt Einblick in eines der dunkelsten Kapitel amerikanischer Geschichte, welches wiederum auf den Mechanismen des hundert Jahre zuvor scheinbar ‚beendeten‘ Kapitels basiert: Der Sklaverei. Whitehead spannt den historischen Bogen vom Anfang der Sklaverei und den Jim-Crow-Gesetzen, die hundert Jahre später eine Wiederbelebung erfahren haben bis in die Gegenwart, wo Rassismus und Hass neue (alte) Gesichter bekommen haben. Das Buch legt fiktionalisiert Zeugnis über wahre Verbrechen ab, die an Aktualität nicht eingebüßt haben. Das (eigene) Schweigen ist hier gleichzeitig Bedrohung und Schutz für die Opfer und deren weiteres Leben. Am Ende offenbart sich dem Leser zudem ein Geheimnis, das mit dem komplexen Wesen des Schweigens eng verbunden ist. Der Roman ist so klar in seiner Charakterzeichnung wie er in seiner Vorgeschichte erschütternd ist und weiß seine Leser*innen von Anfang an zu packen. Der Knoten im Hals löst sich auch am Ende nicht.