Turnen auf dem Mond
Die 36jährige Go Mani hat ihr gesamtes Leben in einem „Mondviertel“ Seouls verbracht. Nun könnte man denken, dass „Mondviertel“ für ein besonders exklusives Wohnerlebnis steht, leider ist dem nicht so. Es handelt sich hierbei um Viertel mit kleinen, ärmlichen Häuschen auf steilen Hügeln am Rande von Seoul, die durch die Höhenmeter „dem Mond nahe“ sind. Diese „Nähe zum Mond“ bedeutet aber im Umkehrschluss eine Distanz zum Seouler Stadtkern mit seinem Fortschritt und Wohlstand. So wächst Mani in Armut bei ihren Eltern auf, mit denen sie mit Ende Dreißig immer noch zusammen im verfallenen Elternhaus lebt. Sie gilt (vielleicht nicht nur) für südkoreanische Verhältnisse als gescheiterte Existenz. Aus dem Wunsch einer Karriere als Turnerin ist nicht geworden, nach zehn Jahren Anstellung in einer Firma als „Tippse für alles“ wird sie gefeuert, sie ist weiterhin unverheiratet und das Elternhaus soll abgerissen werden, um der fortschreitenden seouler Stadtentwicklung Platz zu machen.
An diesem Punkt setzt der Roman von Cho Nam-Joo (Autorin von „Kim Jiyoung, geboren 1982“) ein und erzählt aus der Ich-Perspektive von Mani mithilfe ihren Erinnerungen in Form von Rückblenden deren bisherigen Lebensweg und weiteres Fortkommen. Durch konventionelles Erzählen versucht uns der Roman mit solidem Erzählstil die Geschichte dieser Frau näher zu bringen. Nun ist es aber so, dass ich eher unbeteiligt diesen Roman gelesen habe, die Charaktere blieben mir immer ein bisschen fern und kamen mir eben nicht nahe, jedenfalls nicht im Sinne von Sympathien. Denn der Umgang untereinander ist über weite Strecken sehr herzlos. So wird die Mutter von Mani von ihr als eine Frau beschrieben, die in früher Kindheitsjahren eine Entwicklungsverzögerung hatte und bis zum heutigen Tage geistig eingeschränkt ist. Das wird nicht so vorsichtig formuliert, wie ich dies gerade getan habe, sondern leider eher abfällig und wenig liebevoll. So erscheint mir auch die Personenzeichnung der Mutter inkonsistent. Wird zunächst beschrieben, dass es eine merkliche Entwicklungsverzögerung mit kognitiven wie auch emotionalen Einschränkungen gibt, heißt es nach einem Zusammenbruch der Mutter bei einem für sie überfordernden Elterntreffen in der Schule „Auch die Lehrerin musste gewusst haben, meine Mutter war vollkommen gesund, aber ich schämte mich für sie.“ Die Mutter wird aber eindeutig als nicht gesund im Buch beschrieben. An anderer Stelle geht es um die schlechte finanzielle Situation der Familie, die im Winter nur selten heizt und mitunter wenig Essen auf dem Tisch hat. Mani soll auf eine Schule mit Turnabteilung gehen, die Eltern verzweifeln über die finanzielle Belastung einer Privatschule, der Vater bekommt einen Herzinfarkt, aber im gleichen Absatz heißt es, ohne zu erläutern, wo denn nun das Geld für die Privatschule hergekommen ist: „Das (der Herzinfarkt) hätte wirklich böse enden können. In die neue Schule ging ich aber trotzdem wie geplant.“ So relativ plump werden Fakten häufig einfach proklamiert in diesem Roman. Cho Nam-Joo geht größtenteils nach dem Prinzip „Tell, don‘t show“, statt andersherum, vor. Keine Frage, dabei bekommt man einige Einblicke in die südkoreanische Gesellschaft, vor allem eben in die unterste Schicht dieser, lernt einiges zur Stadtentwicklung Seouls in den 1980er, 90er, 00er Jahren, aber packen konnte mich die Geschichte dadurch nicht so richtig.
Sprachlich mutet außerdem etwas merkwürdig die zwischenzeitlich kurz auftretende lapidare Umgangssprache. An Stellen der direkten Rede, an denen gezeigt werden soll, dass die sprechende Person eben Umgangssprache spricht, ist das verständlich. Aber im Rahmen der Rückblicke, die und Mani aus ihrer nun Ende Dreißigjährigen Sicht erzählt, wirkt dies vollkommen unpassend, zumal wir wissen, dass sie mittlerweile das College besucht hat, also einen höheren Bildungsweg und Bürotätigkeiten nachgegangen ist. So kommt es wie Sätzen, die wie dieser hier endet: „Der eigenen Not durch Gesetzesvorstöße, Gesetzesumgehung und Tugendlosigkeit entgehen zu wollen, ist normal, den Dornenweg brav und ehrbar beschreiten zu wollen, ist bescheuert.“ oder „Ich sprang auf und zog meine Hose und Unterhose herunter. Ein dunkelbrauner Fleck. Scheiße. Da hatte ich dem beschissenen Gezanke nun also einen Schlusspunkt gesetzt, indem ich mir selbst in die Hose geschissen hatte.“ oder es ist von „beschissenen Schließfächern“ die Rede, etc. Die Übersetzung des vorliegenden Romans stammt von Jan Henrik Dirks, der nach Ki-Hyang Lee (die kongenial „Kim Jiyoung, geboren 1982“ übersetzte) und Inwon Park (Übers. von „Miss Kim weiß Bescheid“) nun schon der dritte Übersetzer ins Deutsche von Cho Nam-Joo Texten ist. Bei drei deutschsprachigen Übersetzungen insgesamt. Ob es nun an der Übersetzung liegt, oder am Originaltext kann ich nicht beurteilen, nur sind mir solche Formulierungen aus den beiden anderen genannten Veröffentlichungen nicht bekannt. Positiv anzumerken ist erstmalig das Nutzen von Fußnoten, die gewisse südkoreanische Begriffe im Anhang erklären. Leider sind diese ab und an obsolet. Steht zum Beispiel im Text (frei zitiert) „wie eine Braut trug ich folgende Kleidungsstücke…“ wird dazu im Anhang erklärt „Traditionelles Erscheinungsbild der koreanischen Braut bei einer Hochzeit“. Das ergibt sich dann durchaus schon aus dem Originaltext heraus. An anderer Stelle fehlt eine genaue Erläuterung, die man sich zum tieferen Verständnis gewünscht hätte.
Inhaltlich bietet der vorliegende Roman als neue Facette sicherlich das Thema der Stadtentwicklung Seouls und der damit einhergehenden Verdrängung der ärmeren, einheimischen Bevölkerung im Rahmen des rasanten Fortschritts Seoul in den letzten Jahrzehnten. Bezüglich der vielen Beispiele an konservativen, mitunter misogynen, südkoreanischen Konventionen hat meines Erachtens „Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah“ nicht viel Neues zu bieten. Dies kann auch am Veröffentlichungszeitpunkt des Originaltextes liegen und an dem, was wir mittlerweile an Texten aus Südkorea hier in Deutschland lesen konnten. Denn wichtig ist anzumerken: Der Originaltext stammt, wie auch „Kim Jiyoung, geboren 1982“ aus dem Jahre 2016! Nachdem mit „Miss Kim weiß Bescheid“, im Original 2021 erschienen (Dtl. 2022), eine aktuelle Kurzgeschichtensammlung veröffentlicht wurde, greift bei „Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah“ der Verlag auf einen alten Text zurück. Und im direkten Vergleich, kann dieser Roman einfach nicht mit der Innovation und erzählerischen Raffinesse (wir erinnern uns an die Erzählperspektive!) mithalten. Sicherlich hat diese deutschsprachige Erstveröffentlichung auch ein Existenzrecht, keine Frage, ich wüsste aber im Zweifel, welches Buch der Autorin ich Interessierten empfehlen würde...
Somit stellt „Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah“ einen guten Roman dar, den man lesen kann, aber nicht muss, wenn man schon zwei, drei südkoreanische Romane mit ähnlichen Themenfeldern gelesen hat. Gestalterisch passt er auf jeden Fall sehr schön in die eigene Sammlung der Cho Nam-Joo Romane.
3/5 Sterne