Durch d. Antisemitismus aktueller & greifbarer denn je! Empfehlung!
„Ist dir jemals in den Sinn gekommen, (…) dass sie vielleicht nicht will, dass ihr Mann oder ihre Gäste wissen, dass sie Jüdin ist? Dass sie es ihnen vielleicht nie gesagt hat?“
„Wir sind nicht mehr in den 30er- oder 40er-Jahren. Es gibt keinen Grund, sich zu fürchten ...“
So wie Hannah haben vermutlich bis vor Kurzem noch ziemlich viele Menschen gedacht.
Wie sehr es jedoch tatsächlich unter der Oberfläche brodelt, wie schnell die Situation eskalieren kann und Antisemitismus selbst vor unserer eigenen Haustür in Deutschland wieder für alle sichtbar wird, wird uns seit einigen Wochen erschreckenderweise vor Augen geführt. Denn Antisemitismus existiert leider heute, wie damals und führt dazu, dass sich viele Juden nicht sicher fühlen können.
„Der Antisemitismus war weitverbreitet - wir haben Vorurteile gegen Juden schon übernommen, bevor Hitler überhaupt an die Macht kam. (…) was die meisten Deutschen glaubten, ist nicht einfach verschwunden, nur weil wir den Krieg verloren haben.“
INHALT:
Die 27-jährige Hannah kommt 1972 mit der Thematik in Berührung, als sie sich nach dem Tod ihrer Mutter Lieselotte, mit ihren Wurzeln auseinandersetzt.
Warum ist ihre Mutter ihr und ihrem Vater gegenüber immer so kalt und unnahbar gewesen? Warum hat sie kaum etwas von sich und ihrer Herkunft erzählt?
„Niemand wird so verschlossen geboren, Tante Lavinia. Ich muss wissen, ob das einfach ihr Wesen war, so abweisend zu sein, oder ob ihr etwas zugestoßen ist ... oder ob es an mir lag.“
Als Hannah alte Briefe durchgeht und auf einen ihr bis dahin unbekannten Großvater in Deutschland trifft, muss sie bald feststellen, dass die Geschichte ihrer Familie - vor dem Hintergrund des Holocausts - dunkler ist, als vermutet.
Plötzlich lastet dieses Erbe als große Schuld auf ihren Schultern. Wie soll sie damit umgehen? Und wie lässt sich all das verzeihen?
Berlin, 1938: Lieselotte bangt um die sterbenskranke Mutter, während ihr Bruder Rudi sich für die Nationalsozialisten begeistert und deren Sicht der Dinge vertritt: „Es wäre eine Gnade für sie, wenn sie nicht mehr leben würde. Sie verschlingt unsere Finanzen, und ihr Leben ist nicht mehr produktiv.“
Während der Vater zum ranghohen Mitglied der Nazipartei wird, engagiert sich Lieselotte in der Bekennenden Kirche und setzt sich heimlich für Juden ein. Doch diese werden immer häufiger denunziert, deportiert oder umgebracht und auch für Lieselotte wird die Situation immer gefährlicher …
MEINUNG:
Zugegebenermaßen habe ich mich vor dem Buch etwas gedrückt. Die vergangenen Wochen, der Krieg in Nahost und der aufflammende Antisemitismus auf dieser Welt, haben die Geschehnisse während des Zweiten Weltkriegs wieder so greifbar werden lassen. Und damit auch den Inhalt des Buches. Gleichzeitig sind genau solche Themen in Büchern wichtig, um Augen zu öffnen und um uns zu verdeutlichen, wohin dieser Hass und diverse Ideologien führen können …
Zudem war der vorherige Roman der Autorin („Das Medaillon“) für mich ein absolutes Jahreshighlight in 2022, daher wollte ich mir „Die verschwiegenen Jahre“ unbedingt auch zu Gemüte führen!
Auf zwei Zeitebenen erzählt Cathy Gohlke gekonnt die Geschichte von Hannah (ab 1972), die ihre Wurzeln unter die Lupe nimmt und einem dunklen Geheimnis auf der Spur ist; und von ihrer Mutter Lieselotte (ab 1938), die in einer nationalsozialistisch geprägten Familie aufwächst und die Schrecken des Krieges miterleben muss.
Die beiden Erzählstränge ergänzen sich harmonisch und ergeben eine spannende und teils erschütternde Familiengeschichte vor dem Hintergrund des Holocausts, welche ich regelrecht verschlungen habe.
Durch den Wechsel der Zeitebenen, war das Grauen des Krieges für mich beim Lesen etwas besser auszuhalten.
Trotzdem fand ich es wieder erschreckend, wie mit Juden, alten und kranken Menschen umgegangen wurde. Oder, dass von Frauen erwartet wurde, als Gebärmaschinen für arische Nachkommen zu dienen.
Mit großem Interesse habe ich auch die Thematik der „vererbten Schuld“ verfolgt: „Ich fühle mich schmutzig ... als könnte ich nie wieder sauber werden. Als hätte ich nicht leben dürfen, als hätte meine Familie nicht überleben dürfen.“
Der Schreibstil ist flüssig, leicht zu lesen und die Zahl der Personen nicht allzu groß, wodurch man sich intensiver mit den zwei Protagonistinnen befassen kann. Mit beiden habe ich sehr mitgefiebert.
Während ich zu Beginn etwas an Emotionalität vermisst habe, hat mich das Buch nach etwa 300 Seiten so umgehauen, dass mir dafür die Worte fehlen. Bei dieser tragischen Entwicklung musste ich schwer schlucken - mich hat sie unglaublich berührt!
Das Buch wird mich noch lange beschäftigen. Noch immer habe ich Bilder vor Augen …
FAZIT: Cathy Gohlke gelingt es erneut, mich von einer tragischen und mitreißenden Familiengeschichte vor dem Hintergrund des Holocausts zu beeindrucken, die mich sehr berührt hat. Durch unsere weltpolitische Lage und den aufflammenden Antisemitismus wirkt der Roman aktueller und greifbarer denn je.
Das Buch lässt mich nachdenklich zurück und wird mir noch lange im Gedächtnis bleiben …
4,5/5 Sterne, ein Highlight und eine große Empfehlung von mir!
(C. N.: Antisemitismus, Mord, Vergewa*tigung, Tod, Trauer, Ableismus)