Neuer Blick auf einen kaltblütigen Massenmörder
Zum 50. Jahrestag des Eichmann Prozesses präsentiert die Historikerin Bettina Stangneth eine umfassende Neubewertung der Person Eichmanns und seiner Rolle als Cheforganisator der sog. Endlösung. Stangeth kann dabei auf umfangreiche Forschungsarbeiten zurückgreifen, die sie als wissenschaftliche Beraterin der Ausstellung
zum Eichmann-Prozess in Berlin 2011 gesammelt hat. Auf ihren Forschungsergebnissen basiert übrigens auch der TV-Film Eichmanns Ende.
Der Titel "Eichmann vor Jerusalem" ist eine Reminiszenz an Hannah Arendts "Eichmann in Jerusalem". In diesem Buch hat Arendt das Bild Eichmanns als Schreibtischtäter geprägt. Sie sah Eichmann als unerbittlichen Bürokraten, der ohne sich selbst die Finger schmutzig zu machen, aus Karrierestreben den Massenmord an den Juden plante. Bettina Stangneth nimmt diesen Titel nicht zufällig auf, sondern sie beschreibt die Jahre, die Eichmann auf der Flucht und im südamerikanischen Exil verbracht hat. Diese fünfzehn Jahre sind von der Forschung bislang nicht sehr beachtet worden, zeigen aber das wahre Bild des Massenmörders.
Eichmann präsentierte sich im Exil im Kreise von Gesinnungsgenossen keinesfalls als subalterner Beamter, sondern brüstete sich mit seiner Rolle als Chefplaner der Endlösung.
Mit der fachlichen "Autorität" des ranghöchsten noch lebenden Judenvernichters rechnet Eichmann seinen Gesinnungsgenossen seine Mordbilanz vor, wobei die Zahlen der Opfer stets schwanken. Zeitweise spekuliert Eichmann sogar darüber sich der westdeutschen Justiz zu stellen, da er erwartet mit vier bis sechs Jahren Gefängnis davonzukommen. Im Nachhinein und unter Berücksichtigung der justiziellen Behandlung von NS-Tätern in den 60er Jahren muss man leider sagen, dass diese Überlegung gar nicht so abwägig war.
Spektakulär Stangneths Forschungsergebnis, dass Eichmann den Schritt zurück nach deutschland sogar im großen Stil plante. Eichmann arbeitete an einem "offenen Brief" an Bundeskanzler Adenauer, der jedoch nie abgeschickt wird. Die Bleistiftnotizen hierfür hat die Autorin nun erstmals geborgen. Eichmanns ausführliche Behauptungen hinsichtlich einer "Lüge von den sechs Millionen Opfern" sollten auf diesem Wege in den Bundestagswahlkampf 1957 platzen.
Stangneth zeigt, dass der Auftritt Eichmanns vor dem Jerusalemer Gericht, bei dem er sich als das vermeintlich kleine, durch nichts als Pflicht angetriebenen Rädchen in der Vernichtungsmaschinerie darstellte, nichts als eine geschickte Selbstinszenierung war, um die zu erwartende Strafe zu minimieren. Damit tat Eichmann auch der damaligen politischen Führung in der Bundesrepublik (bewusst oder unbewusst sei mal dahingestellt) einen Gefallen, bestätigte er doch das mühsam gepflegte Bild der westdeutschen Nachkriegsjustiz von NS-Tätern als motivationslosen Gehilfen einer einsamen Spitze aus Hitler, Himmler und Heydrich, was immer wieder Strafmilderungen ermöglichte. Auch verzichtete Eichmann darauf, andere ihm bekannte Personen, die inzwischen in der Bundesrepublik wieder Karriere gemacht hatten, in das Verfahren zu ziehen. So konnte die Adenauer-Republik aufatmen, da internationale Verwicklungen durch den Prozess ausblieben.
Stangneth zeigt so ein neues Bild von Eichmann als durchaus sendungsbewusster und überzeugter Täter, der aus prozesstaktischen Erwägungen seine Rolle kleinspielte. Seine äußere Erscheinung und die kriecherische Verhaltensweise trugen dazu bei, dass viele Prozessbeobachter, so auch Hannah Arendt, dieses Bild akzeptierten und den kaltblütigen Überzeugungstäter hinter dem Bild nicht erkannten.
Es ist Stangeths Verdienst, das Bild Eichmanns wieder richtiggestellt zu haben und auch die Rolle der jungen Bundesrepublik in diesem Prozess beleuchtet zu haben.
Leider ist Frau Stangeth zwar eine brilliante Historikerin schreibt aber auch so. Der Leser wird in das hohe teilweise abstrakte Verfahren der Quellenkritik eingeführt, wenn die Autorin ihre Quellen immer wieder in Abgrenzung zum bisherigen Forschungsstand erklärt. Für den Nicht-Historiker (der Rezensent hat mal Geschichte studiert) ist manchmal das sehr mühsam zu lesen. Hier hätte der Darstellung etwas mehr Übersichtlichkeit und etwas mehr Rücksicht auf nicht-akademische Leser gut getan.
Aber insgesamt ist Langneths Buch eine bemerkenswerte Grundlagenstudie, die Eichmann Selbszinszenierung als kleiner Beamter vor Gericht entlarvt und in den historischen Kontext einbettet. Auf die weiteren Ergebnisse ihrer Forschungen, insbesondere darauf wie die politische Führung der Bundesrepublik und Israels Einfluss auf den Prozesverlauf nahmen, darf man gespannt sein.