Anna B Savage bekennt sich zur unbedingten Verantwortung für die Erde, denn wir sind alle auf Gedeih und Verderb mit unserem Planeten verbunden.
Die in London geborene Anna B Savage gibt Antworten darauf, wie ein Song sowohl harmonisch als auch erfinderisch aufgebaut sein kann. "You & I Are Earth" ist thematisch unter anderem ein Liebesbrief an einen Mann und an Irland, das seit etwa 10 Jahren die Heimat der Musikerin ist. Das Werk handelt in diesem Zusammenhang von heilenden Kräften als auch von ungebrochener Neugier. Zwei an und für sich konkurrierende Kräfte, die sich jedoch nicht im Wege stehen, sondern zum gegenseitigen Nutzen ergänzen.
Das Album wird durch einen kurzen Ablauf aus echten Naturgeräuschen und naturidentischen Instrumental- und Stimmen-Impressionen eingeleitet, die ohne Pause zum Kern von "Talk To Me" führen. In diesem Lied wird die Verbundenheit mit dem Meer beschworen. Die akustische Gitarre plätschert dazu mit einem Picking, welches an die konstante Wiederkehr von Wellen erinnert. Das Keyboard-Schwirren lässt in Ergänzung dazu den beinahe ununterbrochen vorhandenen Küsten-Wind erahnen. Annas Stimme trägt dieses Wechselspiel genüsslich-erregt mit und zaubert eine intim-verzückte Atmosphäre herbei.
Auch "Lighthouse" spielt mit Metaphern, die mit dem Leben am Meer zu tun haben. Es enthält zudem autobiografische Züge, weil es von einer Beziehung berichtet, die innige Geborgenheit vermittelt ("Plötzlich war er da. Und ich bin glücklich mit ihm am Meer. Wir haben etwas von einem Glühen. In der Gesellschaft des anderen."). Der Bass tönt durchdringend-rumpelnd wie fernes Donnergrollen. Es gibt zudem künstliches Seevogel-Kreischen und sanft gezupfte Saiten, die dicke Regentropfen zu imitieren versuchen. Komplettiert wird die maritime Stimmung noch durch Piano-Geklimper in Anlehnung an das Geräusch von abklingendem, kaltem Niederschlag. Was sich womöglich in geschriebener Form wie billiger Kitsch anhören mag, übermittelt in Wirklichkeit ein feines Gespür für die Ähnlichkeit zwischen Natur- und Instrumenten-Klängen.
"Donegal" ist eine Stadt und ein Bezirk im Nordwesten der Republik Irland, dem Zuhause von Anna. Die ursprüngliche Bedeutung des Namens ist: "Festung der Fremden".
"Mo Cheol Thú" kommt aus dem Irischen und steht für: "Du bist meine Musik". Das ist ein traditionelles Lob für herausragende Leistungen. Der Begriff wird allerdings auch als Ausdruck für "Ich liebe Dich" verwendet.
Beide Tracks tragen schon im Titel die tiefe Heimatverbundenheit von Anna B Savage in sich. Ihnen liegt quasi die Verheißung auf Stabilität und Geborgenheit im Leben zugrunde. Die Stücke sind aber dennoch keine beschaulichen Werbe-Botschafter, die die touristische Anziehungskraft der Landschaft herausstellen, sondern sie setzen sich textlich mit Wünschen und Erwartungen auseinander. Ihr Sound transportiert zwar die Weisheit alter Folk-Songs, die Lieder stehen aber musikalisch mit beiden Beinen im Hier und Jetzt. So ist "Donegal" ein attraktiver, dynamisch pulsierender Folk-Jazz auf Minimal-Art-Rhythmus-Basis und "Mo Cheol Thú" brilliert als kontrastreiche, intim gesungene und lebendig instrumentierte Ballade.
Zwischen den eben besprochenen Irland-treuen Schöpfungen wurde "Big & Wild" platziert. Ein eineinhalbminütiges Zwischenspiel, das den Anschein erweckt, als sei es der Auftakt zu einer episch angelegten Art-Pop-Nummer.
Diese Erwartung bleibt jedoch unerfüllt, denn mit "Incertus" wird danach eine weitere Überleitung, die dieses Mal instrumental ausgefallen ist, angeboten. Das lateinische Wort "Incertus" hat mehrere Bedeutungen, wie zum Beispiel unsicher, ungewiss, unbestimmt, trübe, düster oder noch nicht sichtbar. Jedes dieser Adjektive kann zur Beschreibung dieses aus akustischen und elektronischen Tönen zusammengesetzten Gebildes herangezogen werden. Kaum hat man begonnen, sich mit dem Geflecht auseinanderzusetzen, ist die Minute, in der sich diese neblig-hypnotischen Klänge abspielen, schon wieder vorbei.
Nahtlos geht es mit dem romantisch-poppigen "I Reach For You In My Sleep" weiter, einem der eingängigsten Stücke der Platte. Wobei "eingängig" hier keineswegs "belanglos" oder etwa "abgedroschen" bedeutet. Das Lied kommt eher auf sympathische Weise einem herbeigesehnten Wohlklang entgegen und wurde dazu wertig arrangiert und klug interpretiert. Joni Mitchells eigenständiger Umgang mit Melodie und Rhythmus lässt grüßen.
"Agnes" entspringt einer spirituellen Erfahrung, die Savage während einer Meditation machte. Sie fühlte sich vereint mit der Erde, als wäre sie Teil eines Netzwerkes, ähnlich dem eines Pilzgeflechtes. Vielleicht handelt es sich bei "Agnes" um einen Geist oder um eine Fantasiegestalt, die dem Wunschdenken entspringt. Auf jeden Fall gibt es aber eine übersinnliche Verbindung zwischen Anna und Agnes, die mit der Beziehung zur Erde als lebender Organismus zu tun hat. Der Track hat luftige Momente zu bieten und füllt als Gegensatz dazu den Raum auch mal üppig aus, was zu anregenden Dynamiksprüngen beiträgt.
Ein klarer, sonniger Himmel und Gewitterneigung sind Natur-Phänomene, die für Freude oder Bedrohung stehen. Die Empfindungen, die mit beiden Ausprägungen in Zusammenhang gebracht werden, sind im Song "You & I Are Earth" akustisch vereint worden und finden als zart gesponnener Art-Jazz-Pop ihre Erfüllung.
Feierlich, sakral und mit Zuversicht und Dankbarkeit wird bei "The Rest Of Our Lives" auf die irdische "Restlaufzeit" geschaut und die positive Energie, die sich daraus ergibt, führt zu einem stimmungsvoll-demütigen Folk-Gospel.
Als Kind hörte Anna in ihrem Elternhaus oft die Musik von Ella Fitzgerald, was ihr Gespür für Melodievielfalt, Energievermittlung und Taktgefühl schulte. Später wurde sie durch ihre Geschwister mit Alben von zum Beispiel Nick Drake, Radiohead, Stevie Wonder und India Arie mit anderen Auffassungen bekannt gemacht. Als sie anfing, selber nach Vorlieben Ausschau zu halten, gefielen ihr zunächst Owen Pallett und My Brightest Diamond. Aus dieser breit gefächerten Mischung lässt sich ableiten, dass sie als Komponistin neugierig auf unterschiedlichste Formen der Soundgestaltung ist, was ihrer Arbeit nützt und der Attraktivität der Schöpfungen zugutekommt. Die poetische Ader, die die intelligente und sensible Musikerin durch ein Studium in englischer Literatur und einen Kurs in kreativem Schreiben schärfen konnte, rundet das originelle Konzept ab. Es bestehen also beinahe perfekte Grundlagen für das Schreiben von anspruchsvollen Songs. Zudem sind Annas Eltern Sänger klassischer Musik. Das Talent sollte deshalb schon alleine aufgrund der Macht der Gene vorhanden sein. Kein Wunder, dass sich die Lieder - wie selbstverständlich - klug und eindringlich anhören.
Auch "You & I Are Earth", das dritte Werk von Anna B Savage, ist hinsichtlich Musik und Text wieder eine ambitionierte Angelegenheit geworden: Mystische Sagen und altehrwürdige Folklore konkurrieren mit der Informationsüberflutung und Schnelllebigkeit unserer Tage um Aufmerksamkeit. Anna besinnt sich dabei auf traditionelle Werte und ist trotzdem bestrebt, ihren eigenen Weg zu gehen. Sie ist momentan sehr glücklich mit ihrem Leben, was sich musikalisch so auswirkt, dass ihre Stimme bei den persönlichen Themen vor Hingabe vibriert. Schließlich ist das Album voll von Liebesliedern, die sich an die Natur und an den Partner wenden.
Oft wird behauptet, dass ernsthafte, große Kunst nur unter Leid und Schmerz entstehen kann. Anna B Savage beweist mit "You And I Are Earth", dass das auch im Rausch des Glücks möglich ist. Auch wenn "You & I Are Earth" ihr zugänglichstes Werk im Vergleich zu "A Common Turn" (2021) und "in|FLUX" (2023) darstellt, so ist es keinen Deut weniger interessant als die Vorgänger. Denn unabhängig von ihrem Befinden erzeugt Anna auch aktuell intensiv-reichhaltige Musik und gibt sich nicht verliebtem Gesäusel hin, sondern stellt im Kern die wichtigsten Anliegen der Menschheit in den Mittelpunkt ihres Schaffens: den sorgsamen Umgang mit unseren Liebsten und unserer Erde. Es ist ein kurzweiliges und mit 31 Minuten leider auch ein kurzes Vergnügen, Anna B Savage beim Eintauchen in ihre eigentümliche Welt zuzuhören.