Wie so viele Musikproduktionen der letzten Jahre ist auch "V" in gewisser Weise ein COVID 19-Album geworden, aber eines mit einer positiven Wendung.
Der hawaiianisch-neuseeländische Musiker Ruban Nielson, der der Kopf hinter dem Unknown Mortal Orchestra ist, zog von Portland in Oregon nach Palm Springs in Kalifornien, als die Schatten der Pandemie am Horizont auftauchten. Dadurch konnte er sich nach 10 Jahren Dauerstress in einem warmen, trockenen Klima eine Auszeit gönnen, die sich wohltuend auf seinen Allgemeinzustand und auch auf seine Stimme auswirkte.
Mit neuem Elan machte er sich im Heimstudio an die Aufnahmen zu "V" und kombinierte schließlich 14 Titel, die aus Instrumentalstücken und Songs bestehen, zum aktuellen Doppelalbum. Stilistische Beschränkungen gibt es keine. Egal ob Pop-Song, Disco-Groove oder Jazz-Improvisation, alle Einfälle werden unkonventionell - aber passend wie bei einem Puzzle - in das extravagante Gesamt-Gefüge des Unknown Mortal Orchestra eingebunden. Dabei entstehen oft psychedelisch verschränkte Erfindungen, die die Grenzen zwischen Mainstream und Underground verschieben oder sogar aufheben.
Nach Einbruch der Dunkelheit ist es gefährlich, lautet das gleichförmige Mantra des Songs "The Garden". Diese Warnung führt erst im späteren Verlauf des unergründlich rätselhaften Tracks durch ein wild fabulierendes E-Gitarren-Solo zur Verbreitung von aufgeregten Schwingungen. Nebenher ist eine erregte Stimmung angesagt, die durch den sachlich geprägten, die Gefahr herunterspielenden Refrain abgeschwächt wird. Eine herrlich verwirrende Gemütslage wird aufsehenerregend und deutlich dargestellt.
Bei "Guilty Pleasures" geht es inhaltlich um die Sturm- und Drangzeit, wenn Hormone das Verlangen, Wünschen und Handeln steuern. Der Song ist aber trotzdem nicht hyperaktiv gestimmt, denn der Takt wird akkurat swingend mithilfe eines eleganten Jazz-Funk-Vibes im Zaum gehalten. Der technisch leicht angeraute Gesang bemüht sich unterdessen um Beherrschung, während der Synthesizer freudvoll vermittelnd dazwischenfunkt. So in etwa hätte eine Zusammenarbeit von Steely Dan und Weather Report klingen können, was übrigens genauso für "The Beach" gilt.
Das Wort "Meshuggah" stammt aus dem hebräischen und bedeutet so viel wie verrückt oder nicht bei Verstand sein. Das Stück geht der Frage nach, was jemanden verrückt werden lässt und was man tun kann, um es nicht zu werden. Einsamkeit ist ein psychischer Killer und geistig-körperliche Energie sorgt dagegen für Frieden und Kraft, lauten zwei Aussagen dazu. Der Track verfügt über einen zackig-hüpfenden Dance-Music-Takt und eine verschachtelte Melodielinie, ohne dass er dadurch schräg wirkt. Ein zwingender Groove ist eben immer noch die beste Medizin, um einen Song interessant zu gestalten!
Und den gibt es auch beim instrumentalen, mit einer karibischen Aura ausgestatteten, jazz-rockigen "The Widow" zu hören, das von einem perlend-glitzernden E-Piano geleitet und durch kauzige Saxophon-Töne in seinem gut geölten Flow überrascht wird.
"In The Rear View" ist eine sich schleppend fortbewegende Ballade, die von lieblich-rauem Gesang und einem Ohrwurm-Refrain getragen und dadurch vor zerstörerischer Tristesse bewahrt wird. "Wirst du dich später jemals an mich erinnern?", fragt sich der Erzähler in einem traurigen Ton. Das melancholisch geprägte Klima verrät, dass er die Hoffnung eigentlich aufgegeben hat, wobei der Break-Beat-Rhythmus das Unwohlsein akustisch unterwandert und verlockend aufbereitet.
"That Life" und "Nadja" sind im Prinzip positiv-optimistisch unterwegs, was schon alleine durch einen stumpfen, stoisch stampfenden Beat angezeigt wird. Eine weitere wichtige gestalterische Rolle spielt die E-Gitarre, die sowohl die Rhythmen durch zündende Akkorde effektiv bestärkt, wie auch die Melodien durch fantasievolle Verzierungen bereichert.
Der gelöste Reggae-Pop von "Layla" verbreitet ein heiteres Gefühl der Gelassenheit, wehrt sich aber zum Glück gegen jede Form der Belanglosigkeit.
"Shin Ramyun" kommt ohne Worte aus, ist aber zu nahe an berieselnder, pausenfüllender Feuilleton-Musik angesiedelt, um wirklich einen bedeutsamen Spannungsbogen aufbauen zu können.
Der harmonisch perfekte Soft-Rock-Satzgesang von "Weekend Run" bringt Sonne in die Komposition, die dennoch nicht glattgebürstet, sondern ziemlich verschachtelt daherkommt.
"Keaukaha" ist ein Ortsteil der Stadt Hilo auf Hawaii. Dort ist die Mutter von Ruban aufgewachsen und als bei einer Jam-Session vor Ort dieses Instrumental-Stück entstand, kamen Erinnerungen hoch, die zu dem Titel führten. Echo-artige Space-Sounds bilden nun die Grundlage dieser zweiminütigen Improvisation.
""I Killed Captain Cook" wird aus der Perspektive von Kalaimanokahoʻowaha gesungen, dem hawaiianischen Häuptling, der den kolonialistischen Kartographen James Cook am 14. Februar 1779 in der Kealakekua Bay tötete", berichtet Ruban über den Inhalt des Liedes. In seiner puren Darbietung klingt der Track wie eine unfertige Demo-Aufnahme, was in starkem Kontrast zu den sonstigen Einspielungen steht.
"Es war ein wirklich schöner Tag und wir haben festgehalten, wie sich der Nachmittag angefühlt hat", erzählt Ruban über die Entstehung des abschließenden "Drag". Abgesehen von einem wortlosen Summen gibt es bei diesem Zufallsprodukt keinen Gesang. Der Zustand des Stücks suggeriert aber, dass es einen Text geben könnte.
Das Unknown Mortal Orchestra sucht nach Wegen, um Psychedelic-Rock, Easy Listening und Art-Pop geistreich und stimmig miteinander zu kombinieren. Die gute alte Tradition des kurzen Gitarren-Solos zur Stimulation einer Situation findet dabei eine gerne benutzte Anwendung. Das bringt Feuer, Schwung und eine schelmische Prägung in die drogenschwangeren und lebhaften Arrangements ein, die dem exklusiven, einfallsreichen und griffigen Sound gut zu Gesichte stehen. Ruban Nielson erfindet die Popmusik zwar nicht neu, er ist aber sehr talentiert darin, attraktive Bestandteile zu destillieren und diese einfallsreich zu kombinieren. Heraus kommen dann häufig hervorragende Patchwork-Arbeiten.