Die einzige Konstante im Leben ist die Veränderung.
Die Tindersticks sind nicht mit wenigen Worten zu beschreiben oder zu begreifen. Sie sind Sound-Künstler, um nicht zu sagen bildende Künstler. Denn ihre Musik ist als Gesamtkunstwerk aus Tönen, Texten, Emotionen und deren Zusammenspiel zu sehen. Kontraste und gleichbleibende Wiedererkennungswerte spielen bei der Konstruktion der Kompositionen genauso eine wichtige Rolle wie Experimente und harmonische Komponenten. Manie und Depression sind die Eckpunkte, zwischen denen sich die intensiv übertragenen Gefühlsäußerungen abspielen.
Das Aushängeschild der Gebilde ist dabei stets der erschütternd sensible Gesang von Stuart A. Staples, der die Gruppe unverwechselbar macht. Seine sonor-nasale, ausdauernd leidende Stimme besitzt eine unermüdliche Neigung dazu, aus einer konstruktiven Melancholie heraus Kraft zu schöpfen. Dabei bringt Staples auf köstliche Weise triefend-herzzerreißend schöne Töne hervor, die jeden Sensiblen zu Tränen rühren können.
Innerhalb ihres eigenwilligen Raum-Zeit-Kontinuums strebt die Band mit „Soft Tissue“ einmal mehr und dieses Mal sehr deutlich nach Ausweitung des Klanghorizontes. Ihre Auffassung von sinnlich-lasziver Leidenschaft, cremigem Soul und bewusstseinserweiterndem Art-Pop verschafft den Songs einen speziellen Glanz sowie majestätische Würde und lässt manche Lieder von innen heraus strahlen und pulsieren, sodass Licht und Schöpfungskraft letztlich über die Dunkelheit triumphieren können. Die acht neuen Stücke fangen eine Stimmung ein, die zwar reich an schwermütigen Klängen ist, aber dennoch Zuspruch, Lebensfreude und sogar eine gewisse Leichtigkeit ausdrücken.
Aufrüttelnde Bläser-Fanfaren und ein stabiler Rhythmus-Teppich künden "New World" großspurig an, fallen aber nach kurzer Zeit in sich zusammen. Das E-Piano dehnt dann hübsch und sauber die Zeit, während sich die gesamte Formation neu formiert. Ein cool-hypnotischer Groove bestimmt den weiteren Verlauf und Stuart Staples betätigt sich als Stimm-Magier, um seine Zuhörer und Zuhörerinnen sanft zu einem überraschenden Gefühlsausbruch zu begleiten, auf den niemand richtig vorbereitet wird. Plötzlich verstärkt nämlich die forsche, prächtige Stimme von Gina Foster kurz den Gesang und hebt den Song aus einem ätherischen Verweilen heraus und hinein in eine zupackende Richtungsänderung. Diese kontrastreiche Vorgehensweise wiederholt sich, wodurch der Track auf suggestive Weise einen nachhaltigen Ohrwurm-Charakter erhält. Die Moral des Liedes scheint zu sein, dass sich ständig alles im Wandel befindet, aber die veränderte Welt nicht immer leicht zu verstehen und zu akzeptieren ist. Besonders, wenn durch eine Neuordnung Moral und Ethik auf dem Kopf zu stehen scheinen. Aber dennoch wird der Sänger nicht von seinen Überzeugungen abweichen ("Ich werde nicht zulassen, dass meine Liebe zu meiner Schwäche wird" / "I won't let my love become my weakness.")
Leidenschaft und Sehnsucht bestimmen die Gefühlswelt von "Don't Walk, Run", das stilistisch von schwülem Stax-Funk und schwülstigem Philly-Soul geprägt wird. Diese Funk-Soul-Herrlichkeit wurde in ein stoisches Klacken eingebettet, über das Stuart sein Flehen und Leiden schmachtend-traurig ausbreitet. Das ganze sinnlich-ergriffene Konstrukt, welches Trennungsschmerz in Töne fasst, entbehrt dabei nicht einer von Geheimnissen umwitterten Dramatik, sodass sich Anspannung und zarte Romantik die Waage halten.
"Nancy" ist ein Gemisch aus einem oszillierenden, elektronischen Fake-Bossa-Nova und einer idyllischen Jazz-Ballade, aus dem man durch kurze eruptive Ausbrüche aufgeschreckt wird. Nancys Schweigen wiegt beim Erzähler schwerer als die Vorstellung der Auswirkungen eines Streitgesprächs. Die Essenz des Textes ist laut Aussage der Band, dass jemand eine Beziehung vermasselt hat und nun um Verzeihung bitten will.
Für "Falling, The Light" wird Ruhe und Frieden in Noten gegossen. Der Track verströmt eine innige Verbindung zwischen den Tönen und den Worten, ist letztlich mehr eine Andacht als ein Song.
"Always A Stranger" vermittelt unterschwellig den Schwung und den Tatendrang einiger Rockabilly-Aufnahmen aus den 1950er-Jahren, wie es zum Beispiel bei Elvis Presleys "Mystery Train" erlebt werden kann. Wobei die Tindersticks diese Energie kanalisieren und für ihre Zwecke so transformieren, dass der Groove geschmeidig bleibt und nicht überschäumt. Das Stück ist inhaltlich von ungestillten Erwartungen und einer starken Verunsicherung durchdrungen: "Meine Liebe steht in Flammen und ich fühle mich immer noch wie ein Fremder" / "My love is in flames and I'm always a stranger."
Atmen bedeutet Leben. Atmen bedeutet auch Vertrauen, Vertrauen, dass die Luft, die uns erhalten soll, nicht schädlich für uns ist. Was nicht selbstverständlich ist, denn laut der Weltgesundheitsorganisation sterben nämlich jährlich weltweit etwa sieben Millionen Menschen an den Folgen von Feinstaub und anderen Schadstoffen in der Luft. Tendenz: steigend. Für "The Secret Of Breathing" wurde dem wummernden Bass eine Hauptrolle zugeordnet, was der Ballade von vornherein Schwere und Tragik einhaucht. Verweht-verirrte Streichinstrumente verbreiten einschüchternden Nebel und Stuart A. Staples entfernt mit seinem herbst-grauen Gesang fast alle Farben aus den Tönen.
Ohne jegliche Zwänge noch einmal zumindest gedanklich von vorne anfangen zu können und dabei am Guten festhalten zu können. Diese Möglichkeit steckt theoretisch in jedem von uns und das triumphale Gefühl des Neubeginns muss berauschend schön sein. "Turned My Back" verfolgt ein solches Muster und zieht zur klanglichen Illustration einen Gospel-Sound heran, der als Jazz-Chanson getarnt ist. Gina Fosters beseelt-voluminöser Gesang, wallende Streicher, verdichtende Bläser, ein hypnotisierender Beat und die schmachtende Stimme von Stuart sind dominante Zutaten zu diesem komplexen, in sich verflochtenen Song.
"Soon To Be April" ist eine unspektakulär erscheinende Träumerei für diejenigen, die sich zum Beginn des Herbstes schon auf den nächsten Frühling freuen. Das Lied kommt ohne Steigerung und ohne laute oder schnelle Bestandteile aus. Es erfüllt quasi die Funktion eines Wiegenliedes: Es beruhigt und wägt die aufmerksam Zuhörenden in Sicherheit.
In der individuellen Wahrnehmung ist vermutlich oft das jeweils aktuelle Album der Tindersticks auch das bisher beste. Das würdigt die Vorgänger in keiner Weise ab, zeigt aber eindrucksvoll, dass es die Musiker verstehen, mit jeder Platte erneut zu begeistern und das Spektrum der Klänge so zu erweitern oder anzupassen, dass es trotz vieler Wiedererkennungsmerkmale immer auch überraschende Facetten zu entdecken gibt.
Stuart A. Staples steuert die Songs gesanglich - wenn nötig - in dunkle Gefilde, wo Melancholie und Leiden zu Hause sind. Das geschieht zutiefst demütig, sodass dieser Vorgang in der Regel für die Zuhörerinnen und Zuhörer sogar aufbauend wirkt. Denn geteiltes Leid ist schließlich halbes Leid. Die relativ üppig vorhandenen mild leuchtenden Momente auf "Soft Tissue" leuchten in diesem Umfeld umso prächtiger.
Es ist anzunehmen, dass mit dem "weichen Gewebe", auf das sich der Titel bezieht, der menschliche Körper gemeint ist. Auf diese Idee kann man jedenfalls kommen, wenn man auf das Cover des Albums schaut. Es wurde von Stuart Staples Tochter Sidonie entworfen und symbolisiert innige Verbundenheit und wohlige Geborgenheit.
Das Quintett aus Nottingham, derzeit bestehend aus Stuart A. Staples (Gesang), David Boulter (Keyboards), Neil Fraser (Gitarren), Earl Harvin (Schlagzeug) und Dan McCinna (Bass), ist seit 32 Jahren im Geschäft. Die Formation inszeniert ihre Musik häufig als in sich gekehrte, komplexe, intime, kammermusikalische Soundtracks für Menschen, denen Charts-Pop zu trivial und klassische Musik zu elitär ist. Bei allem vorhandenen Weltschmerz erlangen die Tindersticks auf Album-Länge nicht selten trotzdem eine bezaubernde, introvertierte Coolness. Die Klänge sind in der Lage, aus Traurigkeit Zuversicht zu zaubern und Trost zu spenden, also wahrlich zauberhafte Erlebnisse zu ermöglichen.
Viele Menschen scheuen Veränderungen im Leben. Aber Anpassungen finden dennoch ständig statt, ob wir wollen oder nicht. Auch im Kleinen. Manchmal unmerklich, weil in kleinen Schüben. So auch bei den Tindersticks. Der Wandel ist ein fester Bestandteil ihrer Musik, macht sie immer wieder attraktiv und ist ein Motor für die andauernde Faszination. Tradition, Verlässlichkeit und Innovation sind drei Eckpunkte des Schaffens der Tindersticks und lassen auch "Soft Tissue" nach den letzten großartigen Non-Soundtrack-Alben "No Treasure But Hope" aus 2019 und "Distractions" von 2021 wieder zu einem durchweg außergewöhnlich interessanten Werk werden, das den spezifischen Sound der Band sowohl ausbaut als auch triumphal weiterführt. Prädikat: Hervorragend!